30. April 2025
Presse: Bahn-Saboteure in Russland

Artikel aus dem Merkus über Schienensabotage in Russland
Kein Zug soll rollen: Russische Guerillas attackieren seit Kriegsausbruch ihr Eisenbahnnetz; jetzt geht Putin mit verstärkter Polizeigewalt gegen sie vor.
Moskau – „Ukrainer wie auch Russen wissen: Wer in diesem Land die Schienen beherrscht, herrscht über dessen stählerne Lebenslinien. Wie Russland ist die Ukraine ein Eisenbahnland“, schreibt Joel Bedetti. Diese Aussage hat der Autor der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) getroffen, als der Krieg ein Jahr alt war. Jetzt startet er ins vierte Jahr, und Wladimir Putins Invasionsarmee sieht ihre Lebensadern offensichtlich stärker bedroht denn je. Eine neue Polizei-Einheit soll die Sabotage am Eisenbahnnetz unterbinden – vor allem in Zentralrussland selbst.
Um die Sicherheit des Schienenverkehrs zu gewährleisten, seien in der Verkehrsabteilung des Innenministeriums der Russischen Föderation für den Zentralen Föderationskreis mobile Patrouillengruppen eingerichtet worden, sagte Dmitri Gutyrja gegenüber der Tass. Wie der Leiter der Transportabteilung des Innenministeriums der Russischen Föderation für den Zentralen Föderationskreis gegenüber der russischen Nachrichtenagentur ausführte, bestünden diese mobilen Patrouillengruppen von Polizeieinheiten aus jeweils mindestens zwei Kräften in gepanzerten Fahrzeugen. Diese seien auf Patrouillen an „abgelegenen Abschnitten der Eisenbahn und anderen Verkehrseinrichtungen“, wie er sagte.
Ukraine-Krieg zuhause: Neue Polizeitruppe soll „illegale Eingriffe in den Eisenbahnbetrieb“ unterbinden
Das solle „illegale Eingriffe in den Eisenbahnbetrieb“ unterbinden, sprich: Sabotage. „Die russische Militärstrategie ist vollständig auf ihr Schienennetz angewiesen, um die massiven logistischen Anstrengungen für groß angelegte Kampfeinsätze, wie wir sie heute in der Ukraine erleben, zu bewältigen“, schreibt Doug Livermore für die Initiative für irreguläre Kriegsführung – ein in Washington D.C. ansässiger Thinktank, um die Integration irregulärer Kriegsführungskompetenzen in die moderne nationale Sicherheitsstrategie zu fördern. Die Moscow Times (MT) berichtet von etlichen Sabotageakten auf die Eisenbahnstrecken Russlands seit dem Beginn des Ukraine-Krieges.
„Motiviert durch ihre Opposition gegen die Invasion des Kremls in der Ukraine und seine Innenpolitik haben russische Partisanen mutige Schritte unternommen, um die militärische Infrastruktur ihres eigenen Landes zu schwächen, und damit einen gewissen inneren Widerstand gegen den Krieg demonstriert.“
Das beträfe sowohl die Infrastruktur als auch rollendes Material, also Gleise, Umspann- und Traktionsstationen, Trennstellen und genauso Lokomotiven, wie die MT aufzählt. Offenbar häuften sich die Anschläge in Belgorod, Wolgograd, Woronesch, Moskau, Swerdlowsk, Tjumen und anderen Regionen, so das Magazin; das berichtet darüber hinaus, dass nicht nur die Zahl der Anschläge von 2023 auf 2024 um 40 Prozent auf 429 Verfahren gestiegen sei, sondern auch, dass etwa ein Drittel der Fälle von Minderjährigen ausgeführt würde. Alexander Bastrykin halte Instant Messenger Dienste für die Quelle allen Übels. Wie die Moscow Times den Leiter des Ermittlungskomitees zitiert, würden die Jugendlichen dadurch zur Sabotage verführt.
Die übermäßige Abhängigkeit von der Eisenbahn für groß angelegte Truppeneinsätze scheint einer der größten Stolpersteine Russlands in diesem Krieg gewesen zu sein, schrieb Emily Ferris bereits zu Beginn der fehlgeschlagenen „Spezialoperation“, die stattdessen zu einem vernichtenden Krieg aufwuchs. Der Armee sei misslungen, wichtige logistische Knotenpunkte in der Ukraine wie die Stadt Charkiw einzunehmen, um die lokale Eisenbahninfrastruktur zu beschlagnahmen und für die eigenen Transporte zu nutzen, um schnell in zu besetzendes Territorium vorzustoßen, wie die Analystin des britischen Thinktank Royal United Services Institute (RUSI) geschrieben hat.
Russlands Gegner im eigenen Land: „Stoppt die Wagen“ und „Kampforganisation der Anarcho-Kommunisten“
Die neue Polizeitruppe soll aber weniger in den besetzten Gebieten eingesetzt werden als vielmehr im russischen Binnenland, wie die Tass berichtet. Offenbar mit gutem Grund, wie Doug Livermore im Oktober vergangenen Jahres geschrieben hat: Ihm zufolge richte sich die offensivere Polizeipräsenz nicht vorrangig gegen ukrainische Partisanen, die ins eigene Territorium eingesickert sein könnten, beispielsweise die Krim-Tataren. Die Abschreckung gilt den eigenen Leuten, wie Livermore ausführt.
„Motiviert durch ihre Opposition gegen die Invasion des Kremls in der Ukraine und seine Innenpolitik haben russische Partisanen mutige Schritte unternommen, um die militärische Infrastruktur ihres eigenen Landes zu schwächen, und damit einen gewissen inneren Widerstand gegen den Krieg demonstriert“, schreibt Livermore, der mutmaßt, dass der Widerstand in Putins Bevölkerung an Stärke und Selbstbewusstsein wachse, je länger der Ukraine-Krieg dauere. „Stoppt die Wagen“ und die „Kampforganisation der Anarcho-Kommunisten“ benennt der stellvertretende Kommandant der North Carolina Army National Guard als die beiden bekanntesten russischen politischen Gruppen, die mittel Sabotage an der Eisenbahninfrastruktur gegen den Ukraine-Krieg protestierten.
105.000 Kilometer umfasst das Eisenbahnnetz Russlands und ist damit nach den USA und China das drittgrößte der Welt, wie die Plattform World Population Review ausweist. Aufgrund der immensen Weite des Landes bieten Brücken, Kreuzungen und andere Knotenpunkte weiche Flanken der russischen Ökonomie, da sie in der Regel keine Ausweichmöglichkeiten zulassen – im Gegensatz zu weit verstreuten Straßen, die aber in einem schlechten Zustand sein sollen. Das macht die Bahn für Anschläge so attraktiv.
Auf Schienen angewiesen: Russland hat in der Ukraine um jeden Eisenbahnknotenpunkt verbissen gekämpft
Die Schwierigkeiten mit dem Straßennetz addieren sich offenbar zu den Misslichkeiten der russischen Fahrzeugflotte, wie Emily Ferris bereits zu Beginn des Ukraine-Krieges im Magazin Foreign Policy publiziert hat. Allein die Reifen der Transport-Lkw haben den Russen scheinbar die Offensiven unmöglich gemacht: Ihren Informationen nach scheinen viele Reifen russischer Versorgungslastwagen so verrottet zu sein, dass das Gummi reiß und der Reifen platze – aus Social-Media-Quellen will sie herausgefunden haben, dass dies wohl auch für Fahrzeuge mit Boden-Luft-Raketensystemen gegolten habe. Der Ersatz mit zivilen Lkw wiederum habe neue logistische Herausforderungen provoziert, wie sie schreibt.
Deshalb habe Russland in der Ukraine um jeden Eisenbahnknotenpunkt verbissen gekämpft; wie das die Neue Zürcher Zeitung darstellt, habe sie sich unter dem Deckungsfeuer ihrer Artillerie von einem Knotenpunkt zum anderen gehangelt. Die Attacken im Binnenland sind von einer anderen Qualität – die Reparatur unterbrochener Gleise oder zerstörter Lokomotiven findet ohne Behinderung durch Feindfeuer statt; allerdings leidet die Versorgung unter der Verzögerung. Wobei tatsächlich fraglich ist, wie der Frontverlauf im Ukraine-Krieg aussähe, würde die russische Logistik reibungsloser funktioniert haben.
Putins Ängste: „Indem man die Arbeit der Eisenbahn sabotiert, rettet man Leben auf beiden Seiten der Front“
Doug Livermore erinnert daran, dass die Nadelstiche gegen die Bahnstrecken – zumal im Hinterland – zusätzlich zum zeitlichen Verlust den Kreml dazu zwingen, Ressourcen statt in den aktiven Frontdienst in Reparatur und Schutz der eigenen Trassen zu investieren. Über die Größe der neuen Polizei-Truppe liegen keine Informationen vor. Allerdings kündigt Dmitri Gutyrja an, „dass man versuche“, wie ihn die Tass zitiert, „die Mitarbeiter dieser Gruppen mit Quadrocoptern und modernen Anti-Drohnen-Waffen auszustatten, die es ihnen ermöglichen, Überwachungen aus der Luft durchzuführen und den unbefugten Einsatz von Drohnen zu bekämpfen“ – anders als von russischer Rhetorik gewohnt, scheint der Leiter der Transportabteilung zwischen den Zeilen einen tatsächlichen Mangel an Ausrüstung anzudeuten.
Das wiederum scheint Ängste unter russischen Offiziellen zu schüren, was allein durch die neue Polizei-Präsenz manifestiert wird. Bereits Ende 2023 hatte die Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ einen Gesetzentwurf zur Strafverschärfung für Sachbeschädigungen an Verkehrsinfrastruktur in die Duma eingebracht, wie die Moscow Times berichtete. Die Partei forderte für derartige Vergehen „während militärischer Operationen“, wie die Tass schrieb, Freiheitsstrafen zwischen zehn und 20 Jahren. Davor war für ähnliche Vergehen ein Strafrahmen von bis zu einem Jahr vorgesehen gewesen.
Wie das Fachmagazin railfreight.com am Ende des ersten Kriegsjahres nahe gelegt hat, scheint zumindest die Gruppe „Stoppt die Wagen“ weniger Kritik am System Putin zu üben als lediglich am Krieg selbst – wie das Magazin von der Guerilla-Website zitiert: „Indem man die Arbeit der Eisenbahn sabotiert, rettet man Leben auf beiden Seiten der Front.“