"Das ist die neue Normalität, die unsere herrschende Klasse beschlossen hat."



Vor einigen Tagen erfuhr ich von der Selbstentzündung von Aaron Bushnell aus den Medien, ich hatte etwas unüberlegt auf einen Videolink geklickt, das Video endet mit dem verpixelten Bild von Aaron und seinen “Free Palestine” Schreien. In den letzten Tagen hat mich dieses Video begleitet.

Wir leben in einer Welt, in der tagtäglich die schrecklichsten Ereignissen – in Form von Videos, Bildern und Nachrichten dokumentiert – nur einen klickweit entfernt sind. Wir können unsere Herzen nicht für all diese Dinge öffnen und doch ist es wichtig nicht abzustumpfen, sondern der Realität gegenüber empfindsam zu bleiben. Das Massakker der Hamas in Israel und der genozidale Krieg in Gaza gehören zu diesen Ereignissen. Die unfassbarer Gewalt, im ersten Fall ausgeübt durch bewaffnete Paramilitärs, im letzteren durch eine technologisch hochgerüstet Armee gegen eine eingesperrte Zivilbevölkerung, ist kaum zu erfassen.

Der Selbstmord dieses jungen Menschen hat mich dazu gedrängt mehr über die Verantwortung nachzudenken, die wir tragen und die Notwendigkeit andere Formen des Handelns zu finden als den Tod, auch und gerade in einer Welt, die zunehmend unbelebbar gemacht wird.

Im Folgenden gibt es einen kurzen Text von crimethinc, der gute Worte für das Geschehene, die Person Aaron Bushnell, die Tragweite seiner Tat findet. “Wir müssen zugeben, dass die bisherigen Protestaktionen in den Vereinigten Staaten nicht dazu beigetragen haben, die US-Regierung zu zwingen, den Völkermord in Gaza zu stoppen. Es ist eine offene Frage, was dies bewirken könnte. Aarons Aktion fordert uns heraus, diese Frage zu beantworten - und sie anders zu beantworten als er es tat.”

Es wurde inzwischen ein weiterer Text von crimethinc veröffentlicht, in dem Freund*innen und Gefährt*innen von Aaron Bushnell zu Wort kommen. Lasst uns diesen anarchistischen Mitstreiter nicht vergessen!

“Das ist die neue Normalität, die unsere herrschende Klasse beschlossen hat.”

Zu Aaron Bushnells Aktion in Solidarität mit Gaza

Am Sonntag, den 25. Februar, erhielten wir eine E-Mail von einer Person, die sich selbst als¹ Aaron Bushnell bezeichnete.

Sie lautete,

“Heute plane ich einen extremen Akt des Protests gegen den Genozid an der palästinensischen Bevölkerung. Die nachstehenden Links führt euch zu einem Livestream und den Aufzeichnung von Geschehnissen, die sehr verstörend sein werden. Ich bitte euch, dafür zu sorgen, dass das Filmmaterial erhalten bleibt und darüber berichtet wird.”

Wir sahen uns das Twitch-Konto an. Der angezeigte Benutzername war “LillyAnarKitty”, und das Benutzersymbol war ein kreisförmiges A, das universelle Zeichen für Anarchismus - die Bewegung gegen jede Form von Herrschaft und Unterdrückung.

In dem Video stellt sich Aaron zunächst selbst vor. “Mein Name ist Aaron Bushnell. Ich bin aktiver Soldat der US Air Force und werde mich nicht länger an Völkermord beteiligen. Ich bin im Begriff, einen extremen Akt des Protests zu vollziehen - aber im Vergleich zu dem, was die Menschen in Palästina unter den Händen ihrer Kolonisator*innen erleben, ist das überhaupt nicht extrem. Das ist die neue Normalität, die unsere herrschende Klasse beschlossen hat.

Das Video zeigt Aaron, wie er zum Tor der israelischen Botschaft in Washington D.C. geht, das Telefon weglegt, sich mit einer brennbaren Flüssigkeit übergießt und sich selbst anzündet, wobei er mehrmals “Free Palestine” ruft. Nachdem er zusammengebrochen ist, laufen Polizeibeamte, die die Situation beobachtet hatten, ins Bild - einer mit einem Feuerlöscher, ein anderer² mit einer Pistole. Der Beamte richtet die Waffe über dreißig Sekunden lang auf Aaron, der brennend am Boden liegt.

Anschließend teilte die Polizei mit, dass sie ihre Sprengstoffentschärfungseinheit hinzugezogen habe, obwohl kein Sprengstoff vor Ort gewesen sei.

Wir haben inzwischen die Identität von Aaron Bushnell bestätigt. Er diente fast vier Jahre lang in der United States Air Force. Einer seiner Angehörigen beschrieb Aaron uns gegenüber als “eine Kraft der Freude in unserer Gemeinschaft”. Ein Online-Posting beschrieb ihn als “einen unglaublich sanften, freundlichen, mitfühlenden Menschen, der jede Minute und jeden Cent, den er hat, damit dafür aufbringt, anderen zu helfen. Er ist albern, bringt jeden zum Lachen und würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Er ist ein prinzipientreuer Anarchist, der seine Werte in allem, was er tut, auslebt.

Aarons Freund*innen sagen uns, dass er an den Folgen seiner Verletzungen verstorben ist.

Den ganzen Nachmittag, während andere Journalist*innen die Nachricht verbreiteten, diskutierten wir darüber, wie wir darüber sprechen sollten. Manche Themen sind zu komplex, um sie in einem eiligen Social-Media-Post zu behandeln.

Das Ausmaß der Tragödie, die sich in Gaza abspielt, ist herzzerreißend. Es übersteigt alles, was wir aus der Sicht der Vereinigten Staaten verstehen können. Mehr als 30.000 Palästinenser*innen sind getötet worden, darunter mehr als 12.000 Kinder. Mehr als die Hälfte aller bewohnbaren Gebäude im gesamten Gazastreifen wurde zerstört, ebenso wie die meisten Krankenhäuser. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebt als Flüchtlinge und hat kaum Zugang zu Wasser, Nahrung oder Unterkünften.

Das israelische Militär plant jetzt eine Bodeninvasion in Rafah, die noch unzählige weitere Opfer fordern wird. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass wir Zeugen eines vorsätzlichen Genozids sind. Alle verfügbaren Beweise deuten darauf hin, dass das israelische Militär weiterhin Tausende von Palästinenser*innen töten wird, bis es gezwungen ist, damit aufzuhören. Und je länger dieses Blutvergießen anhält, desto mehr Menschen werden in Zukunft sterben, da andere Regierungen und Gruppen den von der israelischen Regierung geschaffenen Präzedenzfall nachahmen werden.

Die Regierung der Vereinigten Staaten trägt die gleiche Verantwortung für diese Tragödie, da sie Israel bewaffnet und finanziert und ihm in den internationalen Beziehungen Straffreiheit gewährt hat. Innerhalb Israels haben die Behörden Protestbewegungen in Solidarität mit Gaza wirksam unterdrückt. Wenn Proteste ein Druckmittel sein sollen, um den Völkermord zu stoppen, liegt es an den Menschen in den Vereinigten Staaten, herauszufinden, wie sie das erreichen können.

Aber was ist dazu nötig? Tausende im ganzen Land haben sich an mutigen Protestaktionen beteiligt, ohne dass es ihnen bisher gelungen wäre, Israels Angriffen Einhalt zu gebieten.

Aaron Bushnell war einer derjenigen, die mit den in Gaza leidenden und sterbenden Palästinenser*innen mitfühlten, einer derjenigen, die von der Frage heimgesucht wurden, was unsere Verantwortung ist, wenn wir mit einer solchen Tragödie konfrontiert werden. In dieser Hinsicht war er beispielhaft. Wir ehren seinen Wunsch, angesichts der Gräueltaten nicht tatenlos zuzusehen.

Der Tod eines Menschen in den Vereinigten Staaten sollte nicht als tragischer - oder berichtenswerter - angesehen werden als der Tod eines/r einzelnen Palästinensers*in. Doch es gibt noch mehr über seine Entscheidung zu sagen.

Aaron war die zweite Person, die sich vor einer israelischen diplomatischen Einrichtung in den Vereinigten Staaten selbst verbrannte. Ein anderer Demonstrant tat dasselbe am 1. Dezember 2023 vor dem israelischen Konsulat in Atlanta. Es ist nicht leicht für uns, über ihren Tod zu sprechen.

Einige Journalist*innen sehen sich selbst in der neutralen Tätigkeit, Informationen als Selbstzweck zu verbreiten - als ob der Prozess der Auswahl dessen, was verbreitet werden soll und wie es formuliert werden soll, jemals neutral sein könnte. Wenn wir uns zu Wort melden, gehen wir davon aus, dass wir zu Menschen sprechen, die handeln, Menschen wie wir, die sich ihrer Handlungsfähigkeit bewusst sind und sich gerade entscheiden, was sie tun sollen, Menschen, die vielleicht mit Herzschmerz und Verzweiflung ringen.

Die Menschen beeinflussen sich gegenseitig sowohl durch rationale Argumente als auch durch die Ansteckungskraft des Handelns. Wie Peter Kropotkin es ausdrückte: “Mut, Hingabe, Opfergeist sind ebenso ansteckend wie Feigheit, Unterwerfung und Panik.”

Genauso wie wir die Verantwortung haben, keine Feigheit zu zeigen, haben wir auch die Verantwortung, nicht leichtfertig für Opfer zu werben. Wir dürfen nicht leichtfertig über das Eingehen von Risiken sprechen, auch nicht über Risiken, die wir selbst eingegangen sind. Es ist eine Sache, sich selbst einem Risiko auszusetzen; es ist eine andere Sache, andere dazu aufzufordern, Risiken einzugehen, ohne zu wissen, welche Folgen dies für sie haben könnte.

Und wir sprechen hier nicht von einem Risiko, sondern von der schlimmsten aller Gewissheiten.

Wir sollten die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, nicht verherrlichen und auch nichts feiern, was so dauerhafte Folgen hat. Anstatt Aaron als Märtyrer zu verherrlichen und andere zu ermutigen, ihm nachzueifern, ehren wir sein Andenken, aber wir ermahnen dich, einen anderen Weg einzuschlagen.

“Das ist die neue Normalität, die unsere herrschende Klasse beschlossen hat.”

Diese Worte von Aaron verfolgen uns.

Er hat Recht. Wir treten rasch in eine Ära ein, in der menschliches Leben als wertlos behandelt wird. Das ist in Gaza offensichtlich, aber wir können es auch anderswo auf der Welt sehen. Mit den sich ausbreitenden Kriegen im Nahen Osten und in Nordafrika stehen wir an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter der Genozide. Selbst in den Vereinigten Staaten sind Massenmorde zur Routine geworden, während ein ganzer Teil der unteren Klasse zu Sucht, Obdachlosigkeit und Tod verurteilt ist.

Als Taktik ist die Selbstverbrennung Ausdruck einer Logik, die der des Hungerstreiks ähnelt. Der/die Protestierende behandelt sich selbst als Geisel und versucht, mit seiner/ihrer Bereitschaft zu sterben, Druck auf die Behörden auszuüben. Diese Strategie setzt voraus, dass sich die Behörden überhaupt um das Wohlergehen der Protestierenden Person kümmern. Heute jedoch, wie wir im Zusammenhang mit dem Hungerstreik von Alfredo Cospito schrieben,

“sollte niemand mehr irgendwelche Illusionen darüber haben, wie Regierungen das Leben sehen; während die US-Regierung den Tod von Millionen Menschen duldet ohne zu erröten, während die russische Regierung ausdrücklich Verurteilte als Kanonenfutter an die Front schickt. Die kürzlich gewählten faschistischen Politiker*innen, die Italien regieren, haben keine Skrupel davor ganze Bevölkerungsgruppen dem Tod auszuliefern, ganz abgesehen davon einen einzelnen Anarchisten sterben zu lassen.”

In diesem Fall war Aaron kein inhaftierter Anarchist, sondern ein aktiver Angehöriger des US-Militärs. In seinem LinkedIn-Profil heißt es, dass er die Grundausbildung als “Top of Flight and Top of Class” abgeschlossen hat. Wird dies für die US-Regierung einen Unterschied machen?

Zumindest zeigt Aarons Aktion, dass ein Genozid in Übersee nicht ohne Kollateralschäden auf dieser Seite des Ozeans stattfinden kann. Leider hat der Tod von US-Militärangehörigen die Behörden noch nie besonders berührt. Unzählige US-Veteran*innen kämpfen seit ihrer Rückkehr aus dem Irak und Afghanistan mit Suchtproblemen und Obdachlosigkeit. Die Selbstmordrate unter Veteran*innen ist wesentlich höher als unter allen anderen Erwachsenen. Das US-Militär setzt weiterhin Waffen ein, die bei US-Soldaten zu dauerhaften Hirnverletzungen führen können.

Den Militärangehörigen wird beigebracht, ihre Bereitschaft zu sterben als die wichtigste Ressource zu verstehen, die sie in den Dienst der Dinge stellen können, an die sie glauben. In vielen Fällen wird diese Denkweise von Generation zu Generation weitergegeben. Gleichzeitig nimmt die herrschende Klasse das Sterben von Soldat*innen in Kauf. Sie hat beschlossen, dass dies normal ist.

Es ist nicht die Bereitschaft zu sterben, die die Herrschenden umstimmen wird. Sie fürchten in Wirklichkeit unser Leben, nicht unseren Tod – sie fürchten unsere Bereitschaft, kollektiv nach einer anderen Logik zu handeln und ihre Ordnung aktiv zu stören.

Viele Dinge, die es wert sind, getan zu werden, sind mit Risiken verbunden, aber sich dafür zu entscheiden, sein Leben absichtlich zu beenden, bedeutet, Jahre oder Jahrzehnte der Möglichkeit auszuschließen und dem Rest von uns eine Zukunft mit dir zu verwehren. Wenn eine solche Entscheidung jemals angemessen ist, dann nur, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

Ungewissheit gehört zu den Dingen, die für den Menschen am schwersten zu ertragen sind. Wir neigen dazu, sie so schnell wie möglich zu beseitigen, indem wir sogar das schlimmste Szenario im Voraus festlegen - selbst wenn das bedeutet, den Tod zu wählen. Es ist eine Art Erleichterung, zu wissen, wie die Dinge ausgehen werden. Allzu oft vermischen sich Verzweiflung und Selbstaufopferung und bieten einen allzu einfachen Ausweg aus Tragödien, die unlösbar erscheinen.

Wenn dir das Grauen in Gaza das Herz bricht und du bereit bist, erhebliche Konsequenzen zu tragen, um zu versuchen, es zu stoppen, bitten wir dich dringend, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um Gefährt*innen zu finden und gemeinsam Pläne zu schmieden. Lege den Grundstein für ein erfülltes Leben im Widerstand gegen Kolonialismus und alle Formen der Unterdrückung. Sei bereit, Risiken einzugehen, wenn es dein Gewissen verlangt, aber eile nicht in die Selbstzerstörung. Wir brauchen dich umbedingt lebendig, an unserer Seite, für all das, was kommen wird.

Wie wir bereits 2011 in Bezug auf die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi geschrieben haben,

“Nichts ist erschreckender als die Abkehr von dem, was wir kennen. Vielleicht erfordert es mehr Mut, dies zu tun, ohne sich umzubringen, als sich selbst anzuzünden. Dieser Mut ist in Gemeinschaft leichter zu finden; gemeinsam können wir so viel tun, was wir als Einzelne nicht tun können. Wäre er in der Lage gewesen, sich an einer starken sozialen Bewegung zu beteiligen, hätte Bouazizi vielleicht nie Selbstmord begangen; paradoxerweise aber muss jeder von uns einen ähnlichen Schritt tun wie er, der in die Leere ging, damit so etwas möglich ist.”

Wir müssen zugeben, dass die bisherigen Protestaktionen in den Vereinigten Staaten nicht dazu beigetragen haben, die US-Regierung zu zwingen, den Völkermord in Gaza zu stoppen. Es ist eine offene Frage, was dies bewirken könnte. Aarons Aktion fordert uns heraus, diese Frage zu beantworten - und sie anders zu beantworten als er es tat.

Wir betrauern seinen Tod.

1. In der E-Mail gab Aaron seine Pronomen als er/ihm an.

2. Später wurde berichtet, dass es sich bei dem Beamten mit der Waffe um einen Sicherheitsbeamten der Botschaft handelt. Wir haben dies nicht unabhängig bestätigen können.