Polizei Hamburg will ab Juli Verhalten automatisch scannen



via Netzpolitik.org

In Hamburg möchte die Polizei ab Mitte Juli „intelligente“ Videoüberwachung (€) auf dem Hansaplatz im Stadtteil St. Georg einführen. „Intelligent“ bedeutet hier: Die Videoaufnahmen sollen automatisch ausgewertet werden, um verdächtige Bewegungen zu erkennen. Das sind „Liegen, Fallen, Taumeln, Treten, Schlagen, Schubsen, Anrempeln, Aggressive Körperhaltung und Defensive Körperhaltung“, führte ein Sprecher der Polizei Hamburg gegenüber netzpolitik.org aus. Es sei jedoch nicht geplant, Menschen beispielsweise durch Gesichtserkennung automatisch zu identifizieren.

Auch läge das Ziel nicht in der Verfolgung Tatverdächtiger, sondern „ausschließlich in der frühzeitigen Erkennung von Gefahrensituationen und entsprechender polizeilicher Intervention“. Falls das System eine Situation als verdächtig einstuft, werden zuständige Polizeibeamt*innen benachrichtigt. Diese entscheiden dann über das weitere Vorgehen und können beispielsweise eine Streife vorbeischicken. Es handele sich um einen dreimonatigen Testlauf mit vier Kameras, um „Erkenntnisse hinsichtlich einer möglichen Einführung zu erlangen“.

KI-Kameras sonst nur in Mannheim

Mit diesem Vorstoß steht Hamburg in Deutschland recht alleine da. Kameras mit Verhaltenserkennung in der Stadt betreibt die Polizei sonst nur in Mannheim. Dort läuft seit 2018 ein Pilotprojekt mit dutzenden Kameras an verschiedenen Standorten. Die Polizei Mannheim verwendet ein vom Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) entwickeltes System. Die gleiche Software soll nun auch in Hamburg eingesetzt werden.

Mit „KI“ läuft zudem noch ein Pilotprojekt mit „Handy-Blitzern“ in Rheinland-Pfalz. Dort wird von Brücken in fahrende Autos hineingefilmt und dann maschinell ausgewertet, ob die Fahrer:innen ihr Smartphone benutzen.

Überwachung trifft besonders Obdachlose

Die Technologie bringt neue Probleme mit sich. Die Algorithmen sind nicht transparent: Welches Verhalten genau als verdächtig gilt und ein Eingreifen der Polizei mit sich ziehen kann, ist für Betroffene unklar. Matthias Marx, Sprecher des Chaos Computer Club (CCC), kritisiert gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dies führe dazu, dass Menschen sich bewusst oder unbewusst angepasst verhalten würden, aus Angst, einen Alarm auszulösen, weil sie etwa schnell liefen oder sich auf den Boden setzten. Das treffe vor allem marginalisierte Gruppen wie Obdachlose.

Der Hansaplatz ist ein bekannter Treffpunkt von Obdachlosen und Suchtkranken. Anwohnende forderten gegenüber der taz daher mehr sozialpolitische Maßnahmen statt eine Ausweitung der polizeilichen Überwachung.

Auch die Genauigkeit der Verhaltenserkennung lässt zu wünschen übrig. In Mannheim liege die Fehlerquote im niedrigen zweistelligen Bereich, erzählte der dortige Polizeipräsident Andreas Stenger 2020 der Deutschen Presseagentur. Auch könne das System Schläge nicht zuverlässig von Umarmungen unterscheiden. Eine Fehlerquote im niedrigen zweistelliger Bereich heißt, dass in mehr als zehn Prozent aller Fälle ein Fehlalarm ausgelöst wird.

Die Genauigkeit des Systems habe sich stetig verbessert, sagt Ulrich Pontes, Pressesprecher des IOSB auf Nachfrage von netzpolitik.org, konnte aber keine genauen Zahlen nennen. Bestimmte Unterscheidungen werde es jedoch nie treffen können, „da hierfür zusätzlich der Gesamtkontext gewürdigt werden muss, wozu ein Mensch intuitiv in der Lage ist, unsere künstliche Intelligenz aber nicht.“ Das IOSB führe auch mit anderen Städten Gespräche über einen möglichen Einsatz der Technologie.

Frankreich legalisiert Verhaltensscanner

Auch andere Länder bauen aktuell solche Technologien aus. Die französische Regierung hat kürzlich ein Gesetz durchgesetzt, dass automatisierte Verhaltenserkennung während der Olympischen Spiele 2024 vorrübergehend erlauben soll. Knapp 40 Bürgerrechtsorganisationen aus ganz Europa sprachen sich in einem offenen Brief gegen das Gesetz aus.

Sie kritisieren, das Gesetz würde biometrische Überwachung durch die Hintertür ermöglichen: Zwar seien Verhaltensscanner nicht zur Identifizierung einzelner Personen gedacht, müssten aber zwangsläufig personenbezogene Daten wie den Gang, die Bewegungen oder das Aussehen von Menschen verarbeiten, um bestimmte Ereignisse zu erkennen. Das ermögliche bereits eine eindeutige Identifizierung. Das Gesetz sei ein gefährlicher Präzedenzfall für andere europäische Staaten, die biometrische Überwachung ausweiten möchten und ein Schritt zur Normalisierung außergewöhnlicher Überwachungsbefugnisse.

Polizei filmt immer öfter

In Deutschland ist vor allem eine Normalisierung konventioneller Videoüberwachung zu beobachten. Änderungen der Polizei- und Versammlungsgesetze aus den letzten Jahren erlauben es der Polizei in vielen Bundesländern, an immer mehr Orten zu filmen. Viele Städte haben in den letzten Jahren die polizeiliche Videoüberwachung massiv ausgebaut. Vor allem betrifft das Orte, die die Polizei als Kriminalitätsschwerpunkte betrachtet, etwa weil es dort gehäuft zu Drogenhandel, Diebstahl oder Gewalt kommt.

Um die Aufnahmen in Echtzeit auszuwerten, müssen Beamt*innen rund um die Uhr den Livestream beobachten. Bei sogenannter „intelligenter“ Videoüberwachung übernimmt ein Algorithmus diese Aufgabe. Nur noch wenn dieser eine verdächtige Situation meldet, müssen sich Menschen die Aufnahmen angucken. Der damalige baden-württembergische Datenschutzbeauftragte Stefan Brink sah darin 2020 gegenüber der Deutsche Presseagentur einen Gewinn für den Datenschutz.

Doch durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz sinkt der Arbeitsaufwand, den die Videoüberwachung der Polizei bereitet. Das kann dazu führen, dass sie Videoüberwachung noch öfter einsetzt und länger aufrechterhält. Diesen Effizienzgewinn führt auch die Polizei Hamburg gegenüber netzpolitik.org als einen der Gründe für das Projekt an.

Videoüberwachung, ob „intelligent“ oder nicht, steht seit langem in der Kritik von Datenschützer*innen, da sie pauschal und anlasslos in die Grundrechte aller Menschen eingreift, die sich an bestimmten Orten aufhalten. Oft handelt es sich dabei um belebte öffentliche Plätze. Das macht es schwer, sich unbeobachtet in der Öffentlichkeit zu bewegen oder anonym an Demonstrationen teilzunehmen. Gleichzeitig zeigen wissenschaftliche Studien, dass der Beitrag zur Prävention von Straftaten eher gering ist.