»Gib dem Bullen, was er braucht«



SICHERHEIT Nach dem Urteil gegen die mutmaßliche Extremistin Lina E. befürchten Behörden eine Welle von Gewalttaten. Die Sorge wächst, dass im Untergrund eine neue Form von Linksterrorismus entstehen könnte.

Als Polizist in Sachsen braucht man ein dickes Fell. Im März zog die Antifa durch Leipzigs Straßen, die Polizei registrierte Sprechchöre wie diesen: »Gib dem Bullen, was er braucht, Hammer auf den Kopf, Stiche in den Bauch.« Mordaufrufe sind in der Hochburg der Linksautonomen keine Seltenheit mehr. Auf einem Plakat war der Name von Sachsens oberstem Staatsschützer zu lesen, dazu die Worte: »Dirk Münster. Bald ist er aus Dein Traum, dann liegst Du im Kofferraum.«

Dem Leitenden Kriminaldirektor Münster untersteht die Sonderkommission »Linx«, die seit 2019 Straftaten von Linksextremisten aufklären soll. Für die Staatsschützer ist die Drohung eine klare Anspielung auf den Mord der Roten Armee Fraktion (RAF) an dem damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der 1977 ermordet im Kofferraum eines Audi 100 gefunden wurde.

Ist das nur verrohte Rhetorik oder das Vorspiel für tatsächliche Gewalttaten der Szene? Das Bundeskriminalamt (BKA) sieht Parallelen zur einstigen RAF. Und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) warnt vor »Aktionen gegen Mitarbeitende der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden« im Zuge des anstehenden Urteils gegen die mutmaßliche Linksextremistin Lina E., die Rechtsextreme überfallen und erheblich verletzt haben soll. Das Urteil werde eine »hohe Symbolkraft« haben. Die Sorge wächst, dass Teile der linksextremen Szene in Deutschland wieder in den Terrorismus abdriften.

Schon jetzt scheint festzustehen: Das Urteil gegen Lina E. und drei mutmaßliche Mittäter, das voraussichtlich Ende Mai oder Anfang Juni am Oberlandesgericht Dresden fällt, wird vor allem teuer. In einem Aufruf mit dem Titel »The price for our freedom«, der Preis unserer Freiheit, drohen Autonome: Für »jedes Jahr Knast gibt es sofort 1 Million Sachschaden bundesweit«. Die Bundesanwaltschaft hat zusammen 18 Jahre Haft gefordert. Als mögliche Ziele werden »Nazistrukturen«, »Repressionsbehörden«, »Knast-Profiteure« sowie staatliche Einrichtungen und Parteien aufgeführt – doch da ist die Szene flexibel. Als Start für die Randale gilt der erste Samstag nach der Urteilsverkündung.

Das Bekennerschreiben begann mit den Worten: »Feuer für die Feinde der Freiheit«.

In Leipzig haben Linksextremisten schon mehrmals hohe Sachschäden verursacht. Ende März brannten in der Stadt 19 Fahrzeuge eines Skoda- Autohauses. Auf der einschlägigen Website indymedia.org fand sich später ein Bekennerschreiben, das einen Zusammenhang mit dem Lina-E.-Verfahren herstellte. Überschrift: »Repression kann teuer werden«. Dem Autobauer wird vorgeworfen, sich »stolz an der Ausrüstung von Polizeieinheiten auf der ganzen Welt« zu beteiligen. Kurz zuvor hatten Unbekannte die Baustelle einer Polizeiwache auf der Eisenbahnstraße angegriffen, dem Polizeirevier Leipzig-Südwest wurden drei Einsatzfahrzeuge abgefackelt. Das Bekennerschreiben begann mit den Worten: »Feuer für die Feinde der Freiheit«.

Die Reihe ließe sich ewig fortsetzen. Mal brennen Autos des Sachsenforsts, mal trifft es Wagen der Stadtverwaltung. Es brennt bei der Deutschen Post oder der Mietwagenfirma Hertz. Die Bekennerschreiben ähneln sich, immer bezichtigen sich Linksextremisten.

So bleibt auch bei den Sicherheitsbehörden ein mulmiges Gefühl, was wohl nach dem Urteil gegen Lina E. passieren wird. Sie gehen davon aus, dass es vor allem in Leipzig, Hannover oder Bremen zu Problemen kommen könnte. Doch dabei müsste es nicht bleiben, für die Freilassung von Lina E. trommelten selbst Aktivisten in Mailand, Barcelona, Zürich, Wien und Athen. Eine europaweite Anreise zum Tag X gilt bei Ermittlern als »mögliches Szenario«.

Die Beamten und Beamtinnen machen sich zudem Gedanken, wie Schäden in Millionenhöhe überhaupt zu erreichen wären. Sie kamen auf Luxusimmobilien, teure Autos und Baumaschinen. In der Ankündigung der Randale auf indymedia.org wird zudem auf ein mögliches »Revival der Wagensportliga« verwiesen. Die gab es in den Neunzigerjahren. Gewinner war, wer in seiner Stadt die meisten Autos angezündet hatte.

Natürlich gelten auch das sächsische Landeskriminalamt oder das Dresdner Oberlandesgericht als mögliche Anschlagsziele. Dass die Täter vor derartigen Institutionen nicht zurückschrecken, zeigten sie zuletzt 2019: Da brannte es eines Nachts an der Außenstelle des Bundesgerichtshofs in Leipzig.

Die Behörden sorgen sich zugleich um Leib und Leben ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Richter und Staatsanwälte im sogenannten Antifa-Ost-Verfahren haben offenbar schon Personenschutz. Im Verlauf des Prozesses gegen die Linksextremisten kam es auch zu »Outings« beteiligter Ermittler. Bekannt wurden demnach Namen, Dienstgrad und Dienststelle. Auf Twitter findet sich ein Hinweis, der durchaus als Drohung verstanden werden kann. Das Solidaritätsbündnis Antifa Ost schreibt dort von der Zeugenladung des Kriminalhauptkommissars Baum. Garniert ist der Tweet mit dem Foto eines Mannes, der mit der Kettensäge einen Baum fällt.

Das BfV erinnert aus gegebenem Anlass an einen Hamburger Amtsrichter, der dienstlich mit Linksextremisten rund um den G20- Gipfel zu tun hatte. Sein Wohnhaus in Niedersachsen sei mit Buttersäure und Farbbeuteln angegriffen worden. Und es gibt ein Bekennerschreiben zu einem Anschlag auf den Privatwagen einer Beamtin des Landeskriminalamts in Berlin.

Die Frau wird mit vollem Namen genannt, ihre Adresse veröffentlicht. Die mutmaßlichen Täter werden darin sehr deutlich: »Auch wenn wir ihre genaue Adresse kennen und sie physisch und direkter hätten treffen können, haben wir unsere Mittel auf das Ziel Sachschaden an ihrem Auto zu verursachen begrenzt. Wir verstehen unseren Angriff als Zeichen, dass die Anonymität auch höherer Verantwortlicher des Repressionsapparates niemals sicher ist. Ihr Handeln verlangt nach Konsequenzen.« Verwiesen wird auf zwei ähnliche Fälle in München und Hamburg. Das Schreiben endet mit den Worten: »Kein Feierabend für Mörder in Uniform!«

Die Angst ist, dass die Gewalt gegen Sachen irgendwann auch in Gewalt gegen Menschen umschlagen könnte. Schon 2019 warnte das sächsische Innenministerium in einem vertraulichen Lagebild vor einer »hohen Gewaltorientierung« der Linksextremen in Leipzig: »Bei Angriffen auf Infrastruktur, Behörden etc. ist die Schwelle zum Terrorismus bereits erreicht.« Und Rechtsradikale sind schon jetzt nicht mehr sicher. Die Gruppe um Lina E. soll Jagd auf sie gemacht und schwerste Verletzungen einkalkuliert haben; die Angeklagte schweigt zu den Vorwürfen der Bundesanwaltschaft. E. wurde am 5. November 2020 mit einem Haftbefehl des Bundesgerichtshofs festgenommen – doch die Taten hörten danach nicht auf.

Im Januar überfielen sechs Unbekannte zwei anscheinend Rechte in Erfurt. Die Tat wurde zufällig gefilmt. Die Männer wurden mit einer Axt, Totschlägern und Pfefferspray malträtiert und schwer verletzt. Im Februar ging es in Budapest weiter. Rechtsextremisten trafen sich dort zum »Tag der Ehre«. Ein offenbar linker Sturmtrupp verletzte mehrere Menschen zum Teil erheblich. Unter den bisher identifizierten mutmaßlichen Tätern sind sechs Frauen aus Deutschland im Alter von 20 bis 26 Jahren und vier deutsche Männer.

Auch diese Taten wurden gefilmt und zeigen ein fast militärisches Vorgehen. Für die Ermittler führt der Fall direkt zum Dresdner Verfahren. Sie gehen von der Existenz einer umherreisenden Gruppe aus, die Verbindungen zur militanten Szene in Berlin und Thüringen unterhält, zum Umfeld von Lina E. sowie nach Griechenland und Italien. Entsprechende »Szenarien-Trainings« wurden nach Erkenntnissen von Ermittlern bereits seit 2018 in Leipzig absolviert.

Als tatverdächtig gilt etwa J., der Lebensgefährte von Lina E., der seit Juli 2020 untergetaucht ist. In einer »Gefährdungsbewertung« des BKA heißt es, G. »nimmt im Rahmen der Vereinigung eine herausragende Stellung ein«. Seine Taten seien von besonderer Brutalität, Skrupellosigkeit und Professionalität geprägt. G. wird per internationalem Haftbefehl gesucht. Das BKA registrierte, dass die Taten in Ungarn von der deutschen linksmilitanten Szene »wohlwollend zur Kenntnis genommen und positiv kommentiert« worden seien. Offenbar gewöhnt sich die extreme Linke an die blutigen Bilder. Auch das wäre eine Parallele zu den Anschlägen der Roten Armee Fraktion.

Es ist nicht die einzige Erinnerung an dunkelste Zeiten des Linksextremismus. Denn die meisten der mutmaßlichen Täter sind inzwischen untergetaucht und für die Ermittler nicht mehr greifbar. Das BKA geht davon aus, dass die Gesuchten längerfristig abgetaucht sein könnten und sich mit Geld sowie Falschpapieren ausgestattet hätten. Die Truppe habe sich offenbar schon länger mit einem Leben in der Illegalität beschäftigt und sich darauf vorbereitet. Das BKA hält fest, ein derartig professionelles Vorgehen sei bei Linksextremisten »letztmalig zu Zeiten der RAF feststellbar« gewesen.

Die von den Untergetauchten »ausgehende Gefahr in Bezug auf Begehung schwerer Gewalttaten«, heißt es in dem BKA-Papier, dürfte sich nach dem Urteil von Dresden »weiter erhöhen«. Erfahrungen hätten gezeigt, dass Kleingruppen im Untergrund vor allem eines machen: sich weiter radikalisieren.