Unziviler Gehorsam - Postfaktische Entwicklungen bei der IL



Im Juli 2022 outete die bundesweite Interventionistische Linke (IL) ein ehemaliges Kölner IL-Ortsgruppenmitglied C als Täter sexualisierter Gewalt. Dem Beschuldigten wurde vorgeworfen, nach einvernehmlichen Sex heimlich gemachte Nacktbilder der Betroffenen X in einer misogynen Chatgruppe geteilt zu haben.[1] Der Beschuldigte bestreitet überhaupt Bilder gemacht geschweige denn geteilt zu haben. Wie am 15.1. durch den Blog „Gegendarstellung“ bekannt wurde, basierten diese Vorwürfe auf manipulierten Emails[2], die die Betroffene X auch dem Landgericht Düsseldorf in einem (durch den Beschuldigten) angestrengten zivilrechtlichen Verfahren als Beweismittel eingereicht hat. Die mutmaßlich von einer anonymen Zeugin jennifer.hills@skymail.de geschriebenen Emails waren die Grundlage für die Vorwürfe gegen den Beschuldigten.

  • Drei unabhängige Recherchegruppen kommen zu dem Ergebnis, dass die Kontaktaufnahme dieser bislang einzigen Zeugin mit M einem langjährigen Mitglied der IL Düsseldorf nicht stattgefunden haben kann – sie ist plump gefälscht. Auch die weiteren von der Betroffenen X vorgelegten Emails dieser anonymen Zeugin weisen technische wie logische Unstimmigkeiten auf.
  • Am 23.1., also eine Woche nach der Veröffentlichung der Recherche-Ergebnisse legt der Anwalt der Betroffenen X sein Mandat nieder. Eine Quelle aus Düsseldorf teilt uns mit, dass ihr Anwalt die ganze Geschichte nicht mehr vertreten könne.
  • Am 7.2. teilt die IL mit, dass die aufgedeckten Fälschungen lediglich „technische“ Inkonsistenzen seien und keinen Einfluss auf die ungebrochene Solidarität mit der Betroffenen X haben. Hinter den Kulissen streitet die IL jedoch um die Berechtigung eines so weitreichenden Outings auf der Basis von gefälschten Indizien.

Mehr Fragen als Antworten

Mit ihrem Statement vom 7.2. verteidigt die IL ihr Vorgehen gegen die auf dem Blog „Gegendarstellung“ geäußerte Kritik. „Wir sind den Schritt des Outings nicht leichtfertig gegangen und uns unserer Verantwortung bewusst,“ heißt es in der Stellungnahme der IL. Und weiter: „Die gezogenen Schlüsse, die einzig der Entlastung des Täters dienen sollen, können auf Basis der dargestellten Informationen nicht belegt werden.“ Dennoch gibt auch die IL zu, dass die technischen Inkonsistenzen eines E-Mail-Headers bisher nicht erklärlich seien. Angekündigt wird daher „eine Untersuchung unter Einbindung Externer durchzuführen und sämtliche Aspekte unvoreingenommen zu bewerten.“ Auf die von der Recherchegruppe k3 gestellte Frage, warum vor der Veröffentlichung des Outings alle Angebote für eine solche Untersuchung abgelehnt wurden, geht die Stellungnahme nicht ein.[3]

Insgesamt lässt die Stellungnahme der IL mehr Fragen offen als sie beantwortet. Weiterhin unklar ist, wer an der dilettantischen Fälschung der Emails beteiligt war, wer davon wusste und ob neben dem Schutz der Betroffenen auch persönliche Konflikte oder interne Machtkämpfe bei der Entscheidung für das Outing eine Rolle gespielt haben.

M gibt vor, die Kontaktaufnahme-Mail der anonymen Zeugin „Jennifer Hills“ auf seinem Büro-mailaccount erhalten zu haben. Das ist jedoch gemäß der drei unabhängigen IT-Analysen absolut ausgeschlossen: Diese Mail ist nicht über das Internet gegangen, sie ist frei erfunden und in die optische Form einer (schlecht gefälschten) Email gegossen worden. Wer könnte also ein Interesse haben, die bislang einzige Zeugin dieses Männernetzwerkes zu faken um C als Täter persönlich wie politisch zu diskreditieren? M ist immerhin der Ex-Partner der Betroffenen X und als bekennender Stalinist sicher kein enger Weggefährte von C innerhalb der IL.

Solidarische Parteilichkeit

Das Prinzip der solidarischen Parteilichkeit mit den Betroffenen von sexualisierter Gewalt wurde ursprünglich im feministischen Konzept der Definitionsmacht entwickelt. Auch der von der IL selbst erstellte und im Kölner ‚Fall‘ angewendete Leitfaden[4] zum Umgang mit sexualisierter Gewalt basiert darauf. Das Prinzip besagt, dass einzig die betroffene Person selbst eine Tat als sexualisierte Gewalt definieren kann und alle übrigen Beteiligten eine politische Verpflichtung haben, parteilich mit dieser Darstellung der Betroffenen zu handeln. Das Konzept ist eine Reaktion darauf, dass unter patriarchalen Verhältnissen, den meist weiblichen Betroffenen oft nicht geglaubt wird und es insbesondere in Gerichtsverfahren sehr schwierig ist, Straftaten nachzuweisen. Ziel der Intervention durch das Konzept ist es, Betroffenen zu ermöglichen, über erfahrene Gewalt zu sprechen sowie die erforderliche Anerkennung für das erlebte Unrecht und praktische Unterstützung in seiner Bewältigung zu erhalten.

Die IL schreibt in ihren Stellungnahmen, dass die Tat „ohne Wissen der Betroffenen“ stattgefunden habe. Dennoch wendete die IL ihren Leitfaden hier völlig schablonenhaft und inadäquat an. Informationen einer anonymen Quelle sind nicht Teil der eigenen Wahrnehmung und müssen daher geprüft werden. Auf tumblr kritisiert die Recherchegruppe k3, dass etwa die Aussage der einzigen bislang bekannten und selbst nicht-betroffenen anonymen Zeugin „Jennifer Hills“ nicht überprüft worden sei.[5] Dieses Vorgehen ist mit solidarischer Parteilichkeit nicht zu erklären. Schließlich konnte zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen werden, dass die Betroffene selbst durch die Zeugin über die Existenz der Chatgruppe getäuscht wurde. Weitere Untersuchungen wären auch deswegen angezeigt gewesen, weil es eine einmalige Möglichkeit gegeben hätte, weitere Täter zu identifizieren und Betroffene zu warnen. „Dies hat die IL nicht nur versäumt, sondern offensiv verweigert,“ kritisiert die Gruppe k3. Und von mehreren Tätern musste nach den Emails von „Jennifer Hills“ vom Januar 2022 (bis zur Enttarnung als Fälschungen ein Jahr später) ausgegangen werden: „Dauertests“ und „Belastungstests“ sowie „spontane Hausbesuche“ seien in einigen Städten geplant. Es ging also nicht um eine Bedrohung durch einen Einzeltäter, sondern um organisierte sexualisierte Gewalt einer überregionalen Männergruppe.[6]

Das Postfaktische als Grenze linker Politik

„Eine solche Veröffentlichung ist politisch erschütternd, weil sie den Fokus einzig und allein auf das vermeintlich Wissenschaftliche und Technische rückt,“ stellt die IL in ihrer aktuellen Stellungnahme in Bezug auf die Gegendarstellung fest. Allein unter der Prüfung von technischen Details werde versucht, einen Fall sexualisierter Gewalt zu verhandeln. Und weiter heißt es: „Die Argumentationsebene gibt einen absoluten Wahrheitsanspruch auf Basis von Expert:innenwissen vor, was eine völlige Entpolitisierung des Falls zur Folge haben soll.“

Diese Ausführungen entziehen dem feministischen Kampf für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt seine objektive Grundlage und machen ihn so zu einer völlig beliebigen Entscheidung. Denn es gibt keinen Grund, warum das wissenschaftsfeindliche Argument, den Fakt der Fälschung im eigenen politischen Handeln ignorieren zu können, nicht auch für die objektiv bestehenden patriarchalen Verhältnisse selbst gelten sollte.

Benötigt der ‚politische‘ Umgang der IL eine genügend große Wahrheitsunschärfe um das Outing von C weiter krampfhaft aufrecht zu halten? Die nachweislich gefälschte Kontaktaufnahme der bislang einzigen Zeugin „Jennifer Hills“ mit M soll ernsthaft ein zu vernachlässigendes technisches Detail sein? In der Begründung für das Outing schrieb die IL noch es gäbe „eindeutige Beweise“ dafür, dass C Täter sei, dann stellt sich heraus die Beweise sind gefälscht und nun sind Beweise nicht mehr wichtig.

Dieser Übergang zum Postfaktischen (mit Fälschungen und Unwahrheiten Politik machen) ist die Basis der machtpolitischen Diskurs- und Medienstrategien rechter Kräfte wie Donald Trump. Hier werden Wahrheiten rein diskursiv hergestellt; der faktische Kern wird dem machtpolitischen Gerangel um Reichweite und damit Deutungshoheit geopfert. Die alternative Fakten sollen dabei keine alternative Parallelwelt erschaffen, sondern dienen vielmehr als destruktive Nebelkerzen in einer polarisierten Debatte.

Als Grundlage linker Politik taugt das Postfaktische nicht. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich sogar um die Abkehr von emanzipatorischer Politik, deren Kern darin besteht, Bedingungen zu schaffen, in denen Menschen sich informieren und unterschiedliche Perspektiven diskutieren, um eigenständig Positionen zu erarbeiten und schließlich „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist,“ wie Marx es ausdrückte.

Linker Gehorsam und Strafe

In der zweiten, kurz nach dem Outing im Juli 2022 gemachten, Veröffentlichung der IL hatte diese ihr Vorgehen dahingehend gerechtfertigt, dass es ihr nicht um eine Bestrafung des Täters, sondern um den Schutz der Betroffenen gegangen sei. Angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen des Outings, das nicht nur das Leben des Beschuldigten und seiner Familie massiv beeinträchtigt, sondern auch jahrelang aktive politische Gruppen zerstört hat,[7] ist diese Darstellung eine grobe Verharmlosung. Anstatt die Gewaltförmigkeit und den darin auch vorhandenen Strafcharakter von Schutzmaßnahmen, wie Outings, auf ihre Angemessenheit zu hinterfragen, wird im Sinne der feministischen Parole „das Private ist politisch“ ein totaler und unkontrollierter Zugriff der linken Politgruppe auf das Leben der Einzelnen gerechtfertigt – ohne Mechanismen, Beschuldigte vor Willkür schützen. Der von der IL in den sozialen Medien etablierte Hashtag #konsequenzenfuerC, wobei C im Original der Name des Beschuldigten ist, macht die eigene Aussage, dass nicht Strafe sondern Schutz das alleinige Motiv gewesen sei, nicht glaubwürdiger.[8] Insbesondere, die von der Recherchegruppe k3 kritisierte Weigerung der IL, sich an der Suche nach der misogynen Chatgruppe zu beteiligen und der Spur der (einzigen) Zeugin nachzugehen, lassen uns am vorgeblichen Schutzinteresse zweifeln. 

Emanzipation braucht Austausch

Es gibt keine autoritäre Abkürzung zur Schaffung sicherer Räume für Betroffene. Parteilichkeit und Solidarität können nicht einfach von einer Unterstützungsgruppe angeordnet werden, sondern sind der Kern des feministischen „Kampfs um die Köpfe und Herzen der Menschen.“ Wer eine Veränderung der unerträglichen patriarchalen Zustände anstrebt, kommt an den – mitunter schmerzhaften – Auseinandersetzungen mit den beteiligten Menschen nicht vorbei.

In nicht-linken Communities wurden längst andere Konzepte zum Umgang mit sexualisierter Gewalt entwickelt, wie community accountability und transformative justice. Auch diese Konzepte machen das subjektive Empfinden der Betroffenen zum Ausgangspunkt des politischen Handelns. Denn dieses Empfinden darf nicht negiert werden. Anders als das ursprüngliche Definitionsmachtkonzept stellen die genannten neueren Konzepte, die maßgeblich von Flinta entwickelt wurden, die auch stark von staatlichem Rassismus betroffen sind, eine gemeinsame Auseinandersetzung der Community ins Zentrum. Sie überlassen diese nicht einer Expert:innengruppe, sondern haben das Ziel Prozesse kollektiver Veränderung jenseits von individualisierender Strafe anzustoßen. Die Einbeziehung der Community, also des Umfelds in dem ein Übergriff stattfindet, erfordert dabei fast immer eine wesentlich größere Flexibilität und Anpassung an die Besonderheiten des jeweiligen Falls als dies im an Definitionsmacht orientierten Leitfaden der IL vorgesehen ist.

Meinungsverschiedenheiten sind bei der Suche nach besseren Konzepten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt, die sowohl Solidarität mit den Betroffenen als auch Schutz vor Willkür für die Beschuldigten ermöglichen, nicht hinderlich, sondern Voraussetzung für das Entstehen neuer Ideen. In diesem Sinne ist auch das Verhalten der linken Medienplattform Indymedia problematisch. Dort sperrte das Moderationskollektiv über eine Woche die „Gegendarstellung“ zum Outing und ergriff in der nachträglichen Begründung einseitig Partei für das Vorgehen der IL – reduziert auf eine Glaubensfrage und alleinig begründet durch eine angebliche ‚Glaubwürdigkeit‘ der IL.[9]

Kritische Kommentare zu diesem politisch untauglichen Moderationsstatement wurden ebenfalls gelöscht. Wir haben die Löschungen zur Nachvollziehbarkeit archiviert.[10] Sechs weitere Statements von Flintas aus Köln zum IL-Outing wurden ebenfalls gelöscht.[11]

Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wie wir als Lesende und Schreibende auf indymedia mit dieser Strategie des coolings von Kontroversen umgehen wollen. Damit meinen wir die temporäre oder gar permanente Unsichtbarmachung im openposting (ohne Verstoß gegen Moderationskriterien) bis eine politische Auseinandersetzung an Tagesaktualität verloren hat – also heruntergekühlt ist. Es kann nicht vom Parteibuch (IL-Zugehörigkeit) der jeweiligen Moderator:innen abhängen, ob gelöscht wird oder nicht. Das Niveau des Statement der Indymedia-Moderation gibt leider keinen Grund zur Hoffnung auf eine interne Lösung des Problems. 

Auch tumulte.org löscht auf Druck der IL Bremen nach wenigen Tagen die Veröffentlichung der Gegendarstellung, stellt zumindest ein Statement zur Löschung und zum Outing der IL in Aussicht.[12] Die IL Hannover hat versucht, Einfluss auf das Autonome Blättchen zu nehmen, in dem sie jegliche weitere Debatte um das IL-Outing zu einer aktiven Beteiligung am Täterschutz erklärt. 

Statt die bestehenden Meinungsverschiedenheiten zu verschleiern sollten wir linke Räume schaffen, in denen solidarisch miteinander gestritten und voneinander gelernt werden kann. Die Reduktion einer Debatte auf die beiden autoritär zugewiesenen Pole ‚unhinterfragbare Solidarität‘ (zur Not auch postfaktisch) oder ‚Täterschutz‘ wird dem Anliegen der Emanzipation nicht gerecht und muss als antifeministische Praxis kritisiert werden.

Fragen an die IL

Gern hätten wir Euch folgende Fragen unter Ausschluss der Öffentlichkeit gestellt. Leider habt ihr seit nunmehr neun Monaten jegliche Antwort verweigert. Diese Form des politisch-strategischen Mauerns wollen wir nicht länger hinnehmen. Anders als ihr wahren wir weiterhin die Anonymität der Beteiligten. 

  • Habt ihr trotz mehrfacher Aufforderung zur Überprüfung (bereits vor dem Outing)[13] die Fälschung der Emails bis zur Enttarnung im Januar 2023 nicht bemerkt? Seid ihr also von Eurem Mitglied M der IL Düsseldorf getäuscht worden?
  • Warum deckt ihr die nunmehr enttarnte Täuschung mit Eurem apolitischen und kontrafaktischen Statement vom 7.2.23?
  • Geht ihr davon aus, dass sich die massiven und weiter wachsenden Zweifel innerhalb der IL an der Berechtigung des Outings per Zwang zur Geschlossenheit dauerhaft wegdrücken lassen? Welchen Weg der Auflösung, Schadensbegrenzung und Verantwortungsübernahme bietet ihr an?

Eine der drei Recherchegruppen

https://outing-koeln.org/

https://gegendarstellungouting.wordpress.com/aufgedeckt-kolner-il-outing-basiert-auf-gefalschten-beweisen-und-falschen-behauptungen/

https://k3-2022.tumblr.com/post/707397097580904449/statement-zu-den-aktuellen-entwicklungen-des

https://interventionistische-linke.org/leitfaden

https://k3-2022.tumblr.com/post/708727959890100224/betroffene-unterst%C3%BCtzen-kollektiv-verantwortung

6  Die von der Betroffenen X vorgebrachten Emails der anonymen Zeugin „Jennifer Hills“ an M und X liegen uns vor.

https://k3-2022.tumblr.com/post/707397097580904449/statement-zu-den-aktuellen-entwicklungen-des

https://twitter.com/inter_linke/status/1547301452829364225

https://de.indymedia.org/node/253466

10 https://web.archive.org/web/20230000000000*/https://de.indymedia.org/node/253466

11 https://feministischeperspektiven1.wordpress.com/

12 https://tumulte.org/2023/01/articles/artikel-zum-k%C3%B6lner-il-outing-vorerst-offline/

13 Die Email einer IT-Recherchegruppe an die Ansprechgruppe der IL vom 30.6.22 liegt uns vor. Darin weisen die Autor:innen auf die Notwendigkeit einer detaillierten Überprüfung der Chat-Abschriften der externen Zeugin hin und bieten dazu externe Hilfe an.