Außerhalb des sozialdemokratischen Gewerkschaftsverständnisses



Kopiert aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Ausgabe 10/2022

Als am 31. März 2012, dem »M31 – European Day of Action against Capitalism«, in mehr als 30 Städten ein internationales Netzwerk aus antiautoritären und radikalen Linken u.a. gegen die Austeritätspolitik der Troika demonstrierte, konnten die beiden Autor:innen dieses Artikels noch nicht ahnen, wie dies die folgenden zehn Jahre ihres politischen Engagements beeinflussen würde.

2012, wenige Jahre nach dem Beginn der großen Weltwirtschaftskrise 2007/2008, dem Arabischen Frühling und am Anfang der militantesten Refugee-Proteste in der Geschichte der Bundesrepublik, nahmen die Austeritätsmaßnahmen in Europa, angeführt durch die deutsche Regierung, brutale Formen an. Dies führte nicht nur zu deutschlandweiten Protesten, sondern stieß auch innerhalb der Linken strategische Debatten an.

In der Bremer Gruppe des linkskommunistischen »…umsGanze!«-Bündnisses, das den Aktionstag mit organisierte, entstand aus dieser Debatte die Absicht, dem eigenen Anspruch, soziale Kämpfe antinational zu organisieren, nun Taten folgen zu lassen. Die sozialdemokratischen Gewerkschaften hielt man dafür jedoch für ungeeignet. Aus klassenkämpferischer Sicht ließe sich gegen sie einwenden, dass sie – historisch wie auch aktuell – autonome Klassenbewegungen verhindern oder ausbremsen. Ihre interne Struktur sowie die rechtliche Lage setzten objektiv den Handlungsrahmen so, dass am Ende zwar mehr Staat, aber keine Revolution herauskommen könne. Aus dieser Kritik entstand die nicht ganz neue Idee, sich die Gründung von Gewerkschaften anzuschauen, die ein deutlich klassenkämpferischeres Profil besaßen. Denn im internationalen Vergleich zeigt sich, dass eben dort mehr kämpferisches Potential vorhanden ist, wo stärkere Bewegungen links der Sozialdemokratie existieren. Dies gilt umso mehr, nach dem sich die selbstzerstörerischen »Reformer« der Sozialdemokratie Clinton- Blair-Schröder ab 1996 durchsetzten, zur Speerspitze des Sozialabbaus wurden und ihr eigenes wirkmächtiges Milieu in weiten Teilen zerstörten. In Bremen entschieden die Genoss:innen, sich die weltweite Basisgewerkschaft IWW anzuschauen.[1]

Die Wieder-Gründung der IWW

2006 wurde die IWW für den deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz und Luxemburg) offiziell neu- bzw. wiedergegründet (Vorläufer gab es bereits in den 1920er Jahren in einigen deutschen Hafenstädten) und folgte damit der Tradition, dass sich Ideen und Kampferfahrungen über Migration verbreiten. Ein Fakt, den die IWW in ihre Strategie aufnahm und der heute noch eine ihrer Stärken ausmacht. Wie die deutsche Linkspartei war die neugegründete IWW eine Negativkoalition von politisch Aktiven, die sich von anderen Orga- nisationen abgewandt hatten. Auffällig war, dass inhaltliche und strategische Auseinandersetzungen aus pragmatischen Gründen in den Hintergrund gerückt wurden und sich somit von der nächsten Wobbly-Generation, darunter den Autor:innen dieses Textes, erst angeeignet werden mussten. Den Gründungsmitgliedern war jedoch weder klar gewesen, warum es jetzt eigentlich die IWW, noch, warum es neben der FAU eine weitere syndikalistisch geprägte Gewerkschaft brauche.

Die IWW ist eine Organisation, die in den USA im Jahre 1905 ihren Anfang nahm, aber über Nordamerika hinaus ihre Strahlkraft entfaltete. Von Anfang an repräsentierte die IWW einen proletarischen Kosmopolitismus − in ihr organisierten sich bis dahin wenig beachtete Arbei- ter:innengruppen, wie Frauen, People of Color und sogenannte ungelernte Arbeiter:innen. Die Kampfformen und Inhalte der Wobblies beruhen auf einer grundlegenden Ablehnung des kapitalistischen Lohnsystems und können auf folgende Formel gebracht werden: Wenn der Chef den Mund aufmacht, ist das ein Angriff auf uns alle. Damit verbunden ist die Idee, sich ent- lang der Branchen in einer internationalen Organisation zu vereinen, die so das Staatensystem in eine nach Bedürfnissen produzierende Weltgesellschaft aufhebt. Die zwischenmenschlichen Verkehrs- und Organisationsformen im Hier und Jetzt müssten hierbei die neue Gesellschaft in Ansätzen vorwegnehmen. So weit, so optimistisch die Genoss:innen, die diese Strategie vor dem ersten Weltkrieg formulierten.

Die Autor:innen dieses Textes stießen 2012 zur IWW, kurz nachdem diese wieder dadurch bekannter wurde, dass Kolleg:innen in New York City sich bei der Café-Kette Starbucks organisierten und die bleierne Phase der verlorenen Kämpfe der 1990er langsam überwunden wurde. Angeführt wurden diese Kämpfe von einer neuen Generation von Arbeiter:innen, die sich allerdings auch innerhalb der nordamerikanischen IWW zunächst erst durchsetzen mussten, weil sie angeblich keine ›richtigen Arbeiter:innen‹ seien. Die mit den Kampagnen verbundene internationale Aufmerksamkeit hatte zwei Folgen: Zum einen war für viele antiautoritäre Linke die IWW nun zurückgekehrt, und dann auch noch in einem Bereich, in dem zuvor behauptet worden war, Organisierung sei nur schwer möglich. Es hatte sich jedoch gezeigt: Es kommt auf das Gewerkschaftsmodell an. Zum anderen hatten die Kämpfe bei Starbucks nicht nur Symbolwirkung auf weitere Kampagnen in der Systemgastronomie, sondern sie ließen auch einige historische Praxen wie Sabotage und direkte Aktionen wieder lebendig werden. Einige dieser Geschichten haben wir in unserem Buch »Spuren der Arbeit« veröffentlicht.[2] Ein Folgebuch zur Diskussion unseres Gewerkschaftsmodells ist geplant für 2023.

Interessant wurden die Erfahrungen aus Nordamerika auch deshalb, weil die USA neben Deutschland und China führend in der Entwicklung von Herrschafts- und Aufstandsbekämpfungstechniken sind. Die betrieblichen Kämpfe in Nordamerika sind in ähnlicher Form auch in Europa zu erwarten. Gerade in den USA beziehungsweise innerhalb großer US-Unternehmen wie Amazon oder Google werden beispielsweise Unionbusting-Techniken erprobt und in andere Länder exportiert.

Die IWW war jedoch nicht nur wegen ihrer neuen, teils erfolgreichen Kampagnen für anti-autoritäre Linke wie uns attraktiv geworden. Aus den Erfahrungen der historischen IWW war eine zentrale Erkenntnis hervorgegangen: Kampfzyklen kommen und gehen und liegen außerhalb unserer Kontrolle. Was eine Organisation hingegen leisten kann, ist die Konservierung und Weitergabe von Erfahrungen: Dies ist die Aufgabe des sogenannten Organizing-Trainings. Ausgearbeitet in den USA und mittels einer Veranstaltungstour 2012 über Deutschland, Österreich, die Schweiz, Großbritannien, die Türkei, Island, Taiwan, Hong Kong und Australien in verschiedene IWW-Regionen verbreitet, bildet das Organizing-Training heute die Grundlage unseres Gewerkschaftsverständnisses. Organizing dient hierbei nicht der Aktivierung von Mitgliedern, sondern der Selbstorganisation. Am ehesten erinnert dieses Verständnis an militante Untersuchungen der Operaist:innen und bedeutet, dass die Bedürfnisse der beteiligten Kolleg:innen ernstgenommen und ihnen nicht ein fertiges Programm vorgesetzt wird. Kolleg:innen bilden demnach eigenständige betriebliche Kerne oder Formen, verbunden mit unserer Strategie der doppelten Mitgliedschaft, d.h. eigene Gruppen unter dem Dach anderer Gewerkschaften zu bilden. Im Unterschied zur entristischen Strategie in der Tradition des Trotzkismus erobern IWW-Mitglieder keine Posten in anderen Organisationen, sondern versuchen kämpferische Kolleg:innen miteinander quer zu ihrer Organisationszugehörigkeit zu vernetzen.

Die Solidaritätsgewerkschaft

Das Gewerkschaftsverständnis der IWW lässt sich mit dem Begriff der Solidaritätsgewerkschaft näher bestimmen. Die Solidaritätsgewerkschaft basiert auf drei Prinzipien: Direkt − Die Arbeiter:innen setzen direkte Aktionen ein, um Forderungen durchzusetzen und um sich gegen Vergeltungsmaßnahmen oder ungerechte Behandlung zu wehren (sie verlassen sich also nicht auf ein rechtliches Beschwerdeverfahren); Demokratisch − Taktiken und Strategien werden durch demokratische Komitees der Arbeiter:innen im Betrieb festgelegt (nicht durch externe Organizer:innen oder Gewerkschaftssekretär:innen); Fürsorglich − Gemeinsames Organisieren schafft eine Kultur der Fürsorge und Solidarität unter den Arbeiter:innen (anstelle eines Wettstreits um die Gunst des Chefs). Wir organisieren uns, weil und indem wir uns um- einander kümmern, damit es unseren Kolleg:innen besser geht und sie mehr Handlungsmacht aufbauen. Im Begriff der Fürsorglichkeit wird auch der feministische Einfluss in der internen Debatte deutlich. Dies geht somit über den Anspruch einer nur sozioökonomisch verstandenen Solidarität hinaus.

Seit 2012 hat die deutschsprachige IWW verschiedene Kampagnen geführt, einige davon in gewerkschaftsfernen Bereichen, einige im Einflussbereich der DGB/ÖGB/SGB-Gewerkschaften; einige durch Betriebsräte und einige als unabhängige Betriebskomitees. Eine der bekanntesten Kampagnen wurde in der Kantine der Commerzbank in Frankfurt 2008 organisiert, als zwölf Kolleg:innen mit öffentlicher Bekanntmachung aus der NGG aus- und in die IWW eintraten.[3] Die Kampagne erhielt international einige Aufmerksamkeit, auch mit Solidaritätsaktionen in den USA und Großbritannien, verblieb leider aber stark fokussiert auf einen Betriebsrat und fiel dann 2012 in sich zusammen. Weiterhin hatten wir Betriebsgruppen und -aktive im Taxigewerbe und in der produzierenden Industrie in Kassel, in einem Callcenter in Rostock, in der Chemieindustrie in Hamburg, in der Gastronomie in Leipzig und Zürich, in der Reinigungsbranche in Solothurn, beim Roten Kreuz in Köln, der Pflege in Frankfurt und Hamburg, im Bildungsbereich in Berlin, im Sozial- und Erziehungsdienst in Bremen und Wien, der Deutschen Bahn oder bei Fahrradkurier:innen in Österreich. [4]

Viele Kampagnen blieben jedoch, und dies bewusst, unter dem Radar der Öffentlichkeit. Ein Kreis an Kolleg:innen ist demnach betriebsöffentlich aktiv, aber nicht öffentlich über den Betrieb hinaus. Allerdings entsteht durch das rein betriebsinterne Organizing der Eindruck, dass bei uns wenig passiert. Für eine langfristige Selbstorganisierung, die auf aktiven Betriebsgruppen beruht und dadurch, wie wir hoffen, unsere Klassenmacht stärkt, braucht es nicht zwangsläufig Öffentlichkeit. Darum messen wir unsere Erfolge auch in Form von Zugeständnissen vom Chef und weniger durch Mitgliedszahlen, da diese nicht unbedingt ein Indikator für Klassenmacht sind. Mit den direkten Aktionen haben Betriebsgruppen ihren Betrieb zeitweilig schlecht regierbar gemacht und konnten Kündigungen verhindern, die Übernahme von Kolleg:innen durchsetzen, Überstunden abwehren, haben mehrere Betriebsräte gegründet oder die Mehrheit im Gremium erlangt.[5] Vielleicht ist es eine der schwierigsten Sachen, dass diese Gruppen stabil bleiben und überhaupt davon berichten, welche Aktionsformen zu welchem Ergebnis geführt haben.

Dennoch ist die IWW im deutschsprachigen Raum noch keine starke Kraft geworden. Zwar ist, vor allem in den letzten fünf Jahren, eine tragfähige Infrastruktur entstanden, darunter eine Organizing-Abteilung, die für die Weitergabe und -entwicklung des Organizing-Trainings und die Auswertung betrieblicher Kämpfe verantwortlich ist. Ein weiterer Erfolg war die Veröffentlichung der Broschüre zu Solidarischen Netzwerken.[6] Schön und vielversprechend ist es auch, dass die rund 500 Mitglieder der IWW viele bislang politisch unerfahrene Kolleg:innen und migrierte Kolleg:innen sowie Arbeiter:innen aus unterschiedlichen Branchen umfassen.

Allerdings fehlt es unserer Meinung nach an Erfahrungskultur. Bislang kommt die Auswertung bisheriger Kampagnen und die kontinuierliche (Neu-)Bewertung der Trainings zu kurz. Eine darauf aufbauende Debatte findet nur in Ansätzen statt – zumindest in unserem Kontext. Die IWW in Nordamerika und Großbritannien zeigt jedoch, dass eben solche Diskussionen gewinnbringend für die Bewegung sein und zu neuen Strukturen, neuen Ansätzen und neuen Koalitionen führen können.

Um die IWW im deutschsprachigen Raum weiterzuentwickeln und mögliche Bündnispartner (wie Ende Gelände oder Care Revolution) zu gewinnen, muss unseres Erachtens die Praxis der letzten fünf Jahre, beispielsweise im Rahmen einer (neuen) Strategiekonferenz, ausgewertet werden. Die politische Diskussion um die eigenen Standpunkte und Schwächen darf hierbei nicht zugunsten eines möglichst strömungsübergreifenden Konsenses hinten angestellt werden. Es ist Zeit für eine neue Phase der Debatte!

Mark Richter ist Sozialarbeiter aus Bremen, Levke Asyr ist Historikerin aus Leipzig. Beide sind Organizing-Trainer*innen und seit Jahren an der Entwicklung des Bildungsprogrammes der IWW beteiligt.

[1] Einsehbar hier: http://basisgruppe-antifa.org/wp/der-klassenkampf-und-die-kommunistinnen-ein-strategievorschlag/

[2] Mark Richter, Levke Asyr, Ada Amhang, Scott Nappalos (2021): Spuren der Arbeit. Geschichten von Jobs und Widerstand. Berlin.

[3] Ein Interview mit dem Betriebsrat Harald Stubbe gibt es hier: https://www.wobblies.org/portfolio/eurest-frankfurt/

[4] Einige dieser Erfahrungen sind hier aufgeschrieben: https://www.wobblies.org/arbeitskaempfe/

[5] Siehe das Interview mit der Betriebsgruppe der IWW Rostock in einem Callcenter: https://www.sozonline.de/2016/04/organizing-im-callcenter/

[6] Die Broschüre zum Download: https://www.wobblies.org/portfolio/solidarische-netzwerke/