Der NSU-Geheimbericht: Zeugnis eines Desasters



Am 28.10.2022 veröffentlichte das „ZDF-Magazin Royale“ den sogenannten Geheimbericht des hessischen Inlandsgeheimdienstes zum NSU. Dieser war zunächst für 120 Jahre für die Öffentlichkeit gesperrt worden, die Sperrung wurde später auf 30 Jahre herabgesenkt. Diese absurd hohe Sperrung machte den Bericht – auch vor dem Hintergrund einer Vielzahl bereits stattgefundener Aktenvernichtungen bei sogenannten Verfassungsschutz-Behörden im NSU-Komplex – zu einem Symbol für die Aufklärungsverweigerung der Behörden im NSU-Komplex. Die Website „Exif-Recherche“ hat eine detaillierte Analyse zu dem Geheimbericht veröffentlicht, die den Bericht unter anderem mit Informationen aus antifaschistischer Recherche kontrastiert und letztlich aufzeigt, dass der Geheimdienst nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist. Wir dokumentieren hier eine gekürzte Version der Analyse von „Exif-Recherche“, die detailreiche Langversion der Analyse findet ihr hier.
Der in weiten Teilen geschwärzte Geheimbericht wurde bei „ZDF Magazin Royale“ und „Frag den Staat“ geleakt.

Der NSU-Geheimbericht: Zeugnis eines Desasters

von EXIF-Recherche

„Ich will wissen, warum die Morde und Anschläge nicht verhindert wurden. Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Ich möchte, dass die NSU-Akten den Anwälten übergeben werden […] Solange eine 100%ige Aufklärung nicht wenigstens versucht wurde, kann und werde ich damit nicht abschließen können.“
Gamze Kubaşık 2021

In Gedenken an:
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter

120 Jahre sollte der Geheimbericht – oft bezeichnet als „NSU-Akten“ – des hessischen Geheimdienstes über die Mordserie des «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU) unter Verschluss bleiben. Nach all den unerfüllten Versprechen der Aufklärung, nach Aktenschredder-Aktionen und dem Auffliegen etlicher V-Personen, die im direkten Umfeld des Kerntrios des NSU platziert waren, sind 120 Jahre Geheimhaltung ein weiterer Vertrauensbruch und Affront gegen die Betroffenen des NSU-Terrors und alle, die sich gegen Rassismus und Neonazismus engagieren. Nach dem Mord an Walter Lübcke wurde die Geheimhaltungsfrist auf 30 Jahre herabgestuft. Doch der Geheimbericht wurde zum Symbol dafür, wie der deutsche Staat mit Betroffenen des Neonaziterrors umgeht. Er steht für das Schweigen ignoranter Behörden, die permanent verharmlosen, vertuschen und teils selbst verstrickt sind in den rechten Terror in Deutschland. Es geht längst darum, was der Bericht heute verkörpert, nicht um seinen konkreten Inhalt.
Fast 135.000 Menschen unterschrieben seit 2019 eine Petition, in der sie die Freigabe der „NSU-Akten“ forderten. Es ist die am häufigsten unterschriebene Petition des Landes Hessen. Der erneute Vertrauensbruch und die Forderung nach Aufklärung wurde auch popkulturell verarbeitet. Der Rapper „Ilhan44“ textet in seinem Song: „Ich muss die NSU-Akten klauen. Merkel du Fresse, mach NSU-Akten auf!“
Auch im Benefiz-Song „Bist du wach?“ von „Azzi Memo“, der den Ermordeten aus Hanau gewidmet ist, wird das Thema aufgegriffen: „Sind Herzen verschlossen wie NSU-Akten.“

Im Folgenden wird der Bericht und die Arbeitsweise des Geheimdienstes analysiert. Dabei werden relevante Informationen aus dem Bericht aufgearbeitet und Lücken gefüllt.

Um eines vorweg zu nehmen: Der Geheimbericht liefert keine Aufklärung und keine Antworten auf die relevanten Fragen rund um die rassistische Terrorserie des NSU. Im Kern ist es nur ein weiteres Zeugnis der desaströsen Arbeitsweise in deutschen Geheimdiensten.

Aktion Konfetti – Vertuschung als Staatsräson
Nachdem sich das Kerntrio des NSU am 4. November 2011 selbst enttarnte, begannen in den Geheimdienstbehörden zügig Vertuschungsaktionen. Allein das „Bundesamt für Verfassungsschutz“ vernichtete am 11. November 2011 etliche Akten von V-Personen, was in der Presse später als „Aktion Konfetti“ bekannt wurde. Schnell wurde klar, dass im Umfeld des NSU zahlreiche sogenannte V-Personen (Spitzel) von Geheimdiensten und Polizeibehörden platziert waren, ohne das dies die rassistische Mordserie verhindert hätte. Ziel der Sicherheitsbehörden war es nun, relevante Hinweise zu vernichten und damit zu verhindern, dass Staatsgeheimnisse und das gesamte Ausmaß ihrer Fehler bekannt werden: Hat es es doch konkrete Hinweise auf den Aufenthalt und die Taten des NSU-Kerntrios gegeben? Hätte man aus den vorliegenden Informationen nicht sehr viel mehr herauslesen und in Bewegung setzen müssen, die Terrorserie gar verhindern können? Die Aktenvernichtungen führten zu einem der größten Skandale in der Bundesrepublik und erschütterten das Vertrauen Vieler nachhaltig. Insbesondere für Angehörige und Betroffene rechter Gewalt wurde die oberste Prämisse der Behörden spürbar, die bis heute heißt: Quellenschutz statt Aufklärung und Opferschutz.
Für die hessischen Behörden wurde es besonders ungemütlich als heraus kam, dass ein Mitarbeiter des hessischen Inlandsgeheimdienstes, der V-Mann-Führer Andreas Temme, am Tatort war, als am 6. April 2006 in Kassel Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Zahlreiche Fragen bis hin zu Verschwörungstheorien ranken sich seitdem um eine mögliche Verstrickung hessischer Behörden in die NSU-Mordserie.

Aufräumen im Auftrag des Staates
Im Juni 2012 wies der damalige hessische Innenminister Boris Rhein seine Behörde an, sämtliche Akten auf Hinweise zum NSU und zu rechtsterroristischen Aktivitäten im Land Hessen zu prüfen. Vom 25. Juni bis zum 3. Dezember 2012 durchsuchten 27 Mitarbeitende unter der Leitung von Iris Pilling, damals Abteilungsleiterin des hessischen Geheimdienstes, nach eigenen Angaben über eine Million Blatt Papier aus 3.500 Aktenbänden. Zu prüfen waren sämtliche Akten aus dem Zeitraum vom 1. Januar 1992 bis zum 30. Juni 2012 aus den verschiedenen Aufgabenbereichen des Geheimdienstes wie der „Observation“, der „Auswertung“ und der „Beschaffung“. Zudem wurde eine Liste mit 78 Personen erstellt (bzw. 77, eine Person taucht doppelt auf), die in den Ermittlungen seit der Selbstenttarnung zu den Verbrechen des NSU aufgefallen waren: Dadurch, dass sie Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt direkt unterstützt hatten, oder dadurch, dass sie Kontakte zu UnterstützerInnen des NSU hatten. Auf diese Personen sollte im Besonderen geachtet werden. Mit dem Wissen von heute hat die Liste keine Aussagekraft mehr in Bezug auf die Relevanz der Personen. Detailwissen zu Intensitäten von Beziehungen und Einbindung in die Szene rechtfertigen einen Platz auf der Liste aus heutiger Sicht bei einigen nicht mehr, andere relevante Personen fehlen hingegen. Außerdem liegt der Liste die falsche Annahme zugrunde, der NSU sei zu dritt gewesen und hätte nicht aus einem weit größeren Netzwerk von Personen bestanden.

Konkret umfasste der Auftrag:
„Neben personenbezogenen Kontakten auf Hinweise bezüglich der Existenz des NSU, des Handelns des NSU (inklusive Symbolen) und Solidaritätsaktionen für den NSU zu achten.
Darüber hinaus wurde die Recherche erweitert auf

  • allgemeine Hinweise in Bezug auf Strategiepapiere bzw. -aussagen, die einen ‚bewaffneten bzw. einen revolutionären Kampf’ oder ein Handeln aus dem ‚Untergrund’ heraus thematisierten.
  • Außerdem sollte auf Kontakte hessischer Gruppierungen oder Personen zu relevanten Gruppierungen, Personen und Szeneobjekten – insbesondere in Thüringen oder in Sachsen – geachtet werden.
  • Besonderes Augenmerk sollte ebenso auf Informationen zu Waffenbesitz oder Informationen im Zusammenhang mit Waffen bzw. Sprengstoff gelegt werden.
  • Bei Informationen über ungeklärte Straftaten interessierten mögliche Parallelitäten mit den Tatabläufen von Straftaten des Zwickauer Trios.
  • Abschließend wurde noch auf Themen (Juden und Fremdenfeindlichkeit sowie Wehrmachtsausstellung) hingewiesen, mit denen sich das NSU-Trio vor seinem Abtauchen beschäftigt hatte.“

Zur Koordination, Qualitätssicherung und Dokumentation der Arbeiten wurde eine Koordinierungsstelle eingesetzt die mit zwei Personen besetzt wurde. Für die Mitarbeitenden wurde sogar spezielle Schulungen abgehalten.

Versuche der Geheimhaltung
Ein Zwischenbericht, den der hessische Inlandsgeheimdienst im Jahr 2013 eingereicht hatte, wurde vom Innenminister wegen Unzulänglichkeiten zurückgewiesen. Der endgültige Abschlussbericht wurde im September 2014 fertig gestellt und seither unter Verschluss gehalten. Es durfte noch nicht einmal bekannt werden, dass es den Bericht gab. Auf Drängen der Linkspartei im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss wurde die Geheimhaltungsstufe des Berichts heruntergesetzt. Erst dadurch wurden die Existenz des Berichtes und die 120-jährige Geheimhaltungsfrist in der Öffentlichkeit bekannt. Einen weiteren Vorstoß lieferten die Journalisten Dirk Laabs und Stefan Aust, die teils erfolgreich auf Akteneinsicht klagten. Von besonderem Interesse war dabei die Rolle des Verfassungsschutz-Mitarbeiters Andreas Temme und seines V-Manns Benjamin Gärtner sowie von Stephan Ernst, der 2019 den nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet hatte.

Im Urteil des hessischen Verwaltungsgerichts heißt es dazu: „Die weiteren Fragen, ob und inwieweit sie möglicherweise in die Morde des NSU – in welcher Weise auch immer – verwickelt gewesen sein könnten sind von ebenso hohem öffentlichen Interesse wie etwaige Unterlassungen oder Verfehlungen des Landesamtes für Verfassungschsschutz oder einzelner seiner Mitarbeiter in diesem Zusammenhang“ (Fehler im Original). Die Geheimhaltungsfrist wurde schließlich auf 30 Jahre reduziert, es besteht jedoch die Möglichkeit, den Bericht nach Ablauf der Sperrfrist weiter unter Verschluss zu halten.

Was (nicht) im Geheimbericht steht
Der „Abschlussbericht zur Aktenprüfung im LfV Hessen im Jahr 2012“, wie der Geheimbericht offiziell heißt, besteht aus einem 17-seitigen Bericht, der die Herangehensweise und Umsetzung, Ergebnisse und Schlussfolgerung der Aktenprüfung beschreibt. Angehängt sind diverse Anlagen sowie eine Liste mit den relevanten Treffern in den Akten. Es wurden 950 Hinweise gefunden, die der Koordinierungsstelle übergeben und nach Prüfung in einer Tabelle mit der Beschreibung „Bezüge zu Personen des NSU-Umfeldes sowie Bezüge zur szenetypischen
Gewaltorientierung von Rechtsextremisten und Hinweise auf Waffenbezüge (legal oder
illegal)“ aufgelistet wurden. Diese Tabelle hat keinen erkennbaren systematischen Aufbau. Die Informationen sind weder chronologisch noch inhaltlich geordnet. Die Tabelle enthält in der veröffentlichten Form enorm viele Schwärzungen, so dass keine Aussage darüber getroffen werden kann, was schlussendlich alles (nicht) im Bericht steht. Zudem ergeben sich Schwierigkeiten, die Informationen einzuordnen. Nahezu die Hälfte der Meldungen in der Tabelle sind gänzlich geschwärzt.

Die massive Unkenntlichmachung wird, ebenso wie die lange Geheimhaltungsfrist, damit begründet, dass durch den Bericht Quellen gefährdet seien sowie die Arbeitsweise des Geheimdienst offengelegt würde. Diese Argumente sind aus Sicht der Behörde zunächst einmal nachvollziehbar, denn keine Sicherheitsbehörde macht von sich aus öffentlich, wie sie konkret arbeitet, wie ihr genauer Wissensstand ist und aus welchen Quellen sie ihr Wissen schöpft. Außerdem wurde den V-Personen zugesichert, dass ihre Identität geschützt wird.
Nicht in diesem Sinne nachvollziehbar dagegen ist, warum Informationen, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts bereits öffentlich bekannt waren, nicht im Bericht zu lesen sind. Beispielsweise Erkenntnisse aus offen einsehbaren Profilen in Sozialen Netzwerken oder öffentlich zugänglichen Internetforen, Zeitungen und Zeitschriften. Aktive Neonazis sollten davon ausgehen können, dass sie den Behörden als Neonazis bekannt sind und dass diese auch in der Lage sind, Tageszeitungen und Antifa-Veröffentlichungen zu lesen.
Bei der Durchsicht des Berichts stößt man immer wieder auf das Kernproblem der Arbeitsweise des Inlandsgeheimdienstes: Er baut sein Wissen im Wesentlichen auf Aussagen bezahlter Spitzel auf. So finden sich zahlreiche Meldungen über Schießtrainings, Waffen- und Sprengstoffbeschaffung und auch Bezüge ins Netzwerk des NSU. Doch kaum eine dieser Meldungen wurde auch nachgegangen. Der Geheimdienst sitzt faktisch auf einem Pulverfass an Informationen, aber unternimmt nichts.
Teilweise ist die Behörde überraschend selbstkritisch und stellt im Bericht fest: „In der Auswertung erfolgten häufig weder Nachfragen bei Quellen noch wurde versucht, den Sachverhalt durch ergänzende Informationen anderer Behörden zu verifizieren oder in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu bewerten.“ Zusammenfassend stellt man sich selbst das vernichtende Urteil aus: „Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen.“
Und obgleich man erkannt hat, dass man eigentlich nicht aussagefähig ist, legt man im selben Bericht in überheblicher Manier fest: „Es fanden sich keine Hinweise auf oder Informationen zu einem terroristischen Verhalten von Rechtsextremisten.“
Den Mitarbeitenden fehlt offensichtlich die Kompetenz, die Informationsbausteine zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen, rechten Terror zu erkennen und dessen Netzwerke zu begreifen.
So offenbart der Geheimbericht die eklatanten Analyse- und Wissensdefizite des hessischen Inlandsgeheimdienstes. Dem Bericht werden im Folgenden Erkenntnisse aus antifaschistischen Archiven und Recherchen entgegengestellt, um das Ausmaß der Unzulänglichkeit deutlich zu machen. Die nachfolgend aufgeführten Personen oder Fälle waren nahezu alle zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts bereits öffentlich bekannt oder Teil von Ermittlungsverfahren.

Die Kritik am Geheimbericht macht sich im Einzelnen an den folgenden Punkten fest:

1. NSU-Komplex
Der Geheimbericht enthält Informationen zu Personen und Gruppen, die im NSU-Komplex eine Rolle spielen. Es zeigt sich allerdings, dass man weder deren Brisanz erkannt noch diese systematisch untersucht hat. Neonazis, die gesondert überprüft werden sollten, wurden kaum auf ihre Strukturen hin analysiert. Organisationen und Netzwerke, denen sie angehörten, wurden offensichtlich für nicht relevant befunden.

2. Das Pulverfass
Der Geheimdienst saß auf einem Pulverfass an Informationen über schwerbewaffnete Neonazis in Hessen. Im Geheimbericht sind dennoch etliche Fälle nicht aufgeführt, in denen sich Neonazis auf legalem Weg Schusswaffen beschafften und an diesen ausbildeten. Ihre Zugehörigkeit zu Schützenvereinen, Bundeswehr und Reservisten-Kameradschaften wurde entweder nicht systematisch untersucht oder es wurden diesbezügliche Informationen zurückgehalten oder geschwärzt.

3. Ungeklärte Fälle
Der Geheimbericht zeigt, dass Behörden sich verweigern, wenn es um Erkennen und Aufklärung neonazistischer Gewalt geht. Der Geheimbericht geht nicht auf versuchte Mordanschläge ein, die in den 2000er Jahren in Hessen von Neonazis begangen wurden oder diese als Täter nahelegen.

4. Mordfall Lübcke
Mit einer Geheimhaltungsfrist von 120 Jahren sollte in erste Linie die eigene Unfähigkeit vertuscht werden. Dass der Geheimdienst weder lernfähig noch reformierbar ist – sondern brandgefährlich – zeigte auch der Mord an Walter Lübcke im Jahr 2019.

Kein Schlussstrich
Auch jüngst zeigte der hessische Geheimdienst erneut wo die Schwerpunkte liegen und wo man heute mit dem vielen Geld und neuen Personal genau hin- und wo lieber wegschaut. Im aktuellen „Verfassungsschutzbericht“ für das Jahr 2021 meldete man: „Zuwächse beim Personenpotenzial gab es im Berichtsjahr etwa im Bereich Rechtsextremismus (+50) und Linksextremismus (+170).“
Kein Beobachtungsobjekt waren freilich die extrem rechten Netzwerke in Polizei und Bundeswehr, von denen in den vergangenen Jahren eins nach dem anderen bekannt wurde. Zur Erinnerung: Im Berichtszeitraum waren allein 49 Beamte des Frankfurter SEK aufgeflogen, weil sie in extrem rechten Chatgruppen aktiv waren. Im Mai 2022 kam heraus, dass sich in Hessen in den letzten Jahren 110 Polizist*innen in 67 rechten Chatgruppen strafbar gemacht hatten.
Doch über die Netzwerke in den Sicherheitsbehörden findet man ebenso wenig ein Wort im „Verfassungsschutzbericht“ wie beispielsweise zu den Hammerskins.
Innenministerium und Geheimdienst in Hessen haben gelernt, die an sie gerichtete Kritik für den Ausbau ihres Apparates zu instrumentalisieren. Man blendet eine geneigte Öffentlichkeit bei jeder Gelegenheit mit Erfolgsbilanzen im „Einsatz gegen Rechts“, die nicht oder nur schwer überprüfbar sind, und verkauft die 2019 ins Leben gerufene „Besondere Aufbauorganisation Hessen Rechts“ (BAO Hessen R) als beispielhafte Kooperation zwischen Geheimdiensten und Polizei. So versucht die Landesregierung die Deutungshoheit über rechten Terror zurückzuerlangen, die ihnen mit der Aufdeckung der Skandale teilweise entglitten war.

Der geleakte Geheimbericht trägt nicht zur Aufklärung der großen Fragen im NSU-Komplex bei. Wie schon durch den NSU-Prozess deutlich wurde, ist weitere Aufklärung abseits des Staates zwingend notwendig, da u.a. die neonazistischen Strukturen von damals bis heute fortbestehen – und kein Schlussstrich gezogen werden kann.

Der Geheimbericht zeigt hingegen eindrucksvoll, dass man sich nicht auf die Angaben der Geheimdienste oder ihre Funktion als sogenanntes „Frühwarnsystem“ verlassen kann – und dass sich dies auch in der Zukunft nicht ändern wird. Engagierte Journalist*innen, Anwält*innen der Nebenklage in Verfahren gegen Neonazis, antifaschistische Recherche und Bildungsinitiativen sowie Betroffene rechter Gewalt sind vielmehr selbst in der Lage, die militante Rechte zu analysieren und ihre Gefährlichkeit zu erkennen. Sie stellen die staatliche Deutungshoheit in Frage und werden dafür häufig diskreditiert und bisweilen kriminalisiert.

Der Geheimdienst ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.