Russland: Die Anarcho-kommunistischen Kampforganisation



Als das russische Militär Ende Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, gingen Anarchist*innen und andere Anti-Kriegs-Demonstrant*innen trotz der drakonischen Maßnahmen gegen Proteste auf die Straße, um ihren Widerstand zu bekunden. In den Monaten seit der Niederschlagung dieser Proteste hat der Widerstand gegen die Invasion neue Formen angenommen. Heimliche Anschläge in ganz Russland richteten sich gegen Eisenbahnlinien, militärische Rekrutierungszentren, Fahrzeuge von Kriegsbefürwortern und die Propaganda des russischen Staates, die den Krieg befürwortet.

Eine der Gruppen, die diese Angriffe unterstützen, ist als “Anarcho-Kommunistische Kampforganisation” bekannt. Im folgenden Interview sprechen sie darüber, wie sie ihre Vorgläufer in der regionalen Geschichte der anarchistischen Bewegungen sehen, wie sich die politische Situation in Russland so weit verschlechterte, dass es möglich war, soziale Bewegungen zu unterdrücken und in die Ukraine einzumarschieren, und welche Art von Organisierung unter den herrschenden Bedingungen möglich ist. Wir baten sie auch, einige ihrer operativen Vorgehensweisen im Detail zu erläutern, für den Fall, dass dies für Anarchist*innen anderswo nützlich sein könnte, die gezwungen sein könnten, ähnliche Strategien anzuwenden, da die staatliche Repression weltweit zunimmt.

Wir, nicht die Autor*innen, haben die Hyperlinks und die Anmerkungen in Klammern hinzugefügt, die den Leser*innen zusätzliche Informationen liefern sollen.

“Wir, die Anarcho-kommunistische Kampforganisation, haben die Eisenbahnschienen (Koordinaten: 56 16'44 “N 38 12'40.5 “E), die zur 12. Hauptdirektion des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation führen, sabotiert - mehrere Bolzen abgeschraubt und die Schienen auseinandergezogen…”

So wie wir es verstehen, betreibt die Anarcho-kommunistische Kampforganisation verschiedene Seiten in den sozialen Medien, unterhält einen Fonds zur Unterstützung von Gruppen, die klandestine direkte Aktionen durchführen, und hilft bei der Veröffentlichung von Berichten über direkte Aktionen und Informationen über Personen, die im Laufe des Kampfes gefangen genommen wurden. Erzählt uns, wie ihr eure Publikationsarbeit seht, denn das ist der Hauptweg, auf dem viele Menschen mit euch in Berührung kommen.

Bei einigen Mitstreiter*innen sind wir auf Kritik gestoßen, was die Social-Media-Aktivitäten als solche angeht: dass es sich um einen endlosen Strom von Kurznachrichten handele, der bei den Leser*innen keinen Eindruck hinterlässt.

Wir betrachten unsere Social-Media-Aktivitäten als einen wichtigen Teil unserer Medienarbeit, verstanden im Sinne unserer Bemühungen, unsere Ideen zu verbreiten. Unsere bevorzugte Plattform für diesen Zweck ist Telegram, da sie weniger zensiert ist und ein etwas intellektuelleres und politischeres Umfeld bietet.

Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass die Eigentümer*innen von Social-Media-Plattformen, ganz zu schweigen von den Service-Providern, mit dem Repressionsapparat eines jeden Staates zusammenarbeiten können. Daher ist es für uns ein wichtiger Grundsatz, die Anonymität in unserer Medienarbeit zu gewährleisten. Wir verwenden ein auf Linux basierendes Betriebssystem, das die Verbindung zum Internet ausschließlich über TOR ermöglicht. Das gilt auch für Telegram, das wir nur auf diese Weise nutzen. Für die Registrierung der für unsere Tätigkeit erforderlichen Konten verwenden wir anonyme und virtuelle Nummern und E-Mails bei riseup.net, dem Projekt im Bereich der Internettechnologie, dem wir am meisten vertrauen. Wir halten es auch für wichtig, die Metadaten von Mediendateien – Bilder, Videos und Texte – zu löschen. Bei einigen Betriebssystemen auf Linux-Basis ist dies mit zwei Klicks möglich, bei anderen müssen Sie spezielle Programme installieren. In jedem Fall ist es immer zugänglich und unerlässlich.

Eine eurer Tätigkeiten ist es, über direkte Aktionen und Ähnliches in Russland zu berichten. Wie verifiziert ihr Berichte und Nachrichten, die euch erreichen, bevor ihr sie weitergebt?

Bei Nachrichten, auf die wir online stoßen oder die uns zugeschickt werden – wenn die Nachricht uns direkt zugeschickt wird –, bewerten wir zunächst, wie plausibel sie aufgrund unserer eigenen Erfahrungen ist. Wir berücksichtigen die Authentizität und Klarheit des Textes der Mitteilung (normalerweise sind diejenigen, die versuchen, eine Mitteilung zu fälschen, ziemlich schlecht darin, sich als Anarchist*innen auszugeben), die Lesbarkeit von Foto- oder Videomaterial und die genauen Koordinaten von Ort, Datum und Ziel eines Angriffs. Wenn die Informationen, die wir erhalten haben, nach diesen Kriterien vertrauenswürdig sind, halten wir sie für wahr und veröffentlichen sie. Wenn über das Ereignis auch in den Massenmedien, einschließlich der Unternehmensmedien, berichtet wird, kann dies als zusätzliche Bestätigung dienen, dass das betreffende Ereignis tatsächlich stattgefunden hat.

Nach welchem Verfahren entscheidet, wen ihr mit eurem Aktionsfonds unterstützt, wenn es keine Möglichkeit gibt, direkten Kontakt aufzunehmen?

Es ist nicht leicht zu entscheiden, wer aus dem von uns eingerichteten Fonds unterstützt werden soll, vor allem, wenn man bedenkt, dass er eher klein ist. Zunächst schickten wir allen, die um Unterstützung baten, kleinere Beträge. Bald stellten wir fest, dass wir in den meisten Fällen keine Bestätigung dafür erhielten, dass diese Menschen auch wirklich etwas unternommen hatten. Aus diesem Grund haben wir nun damit begonnen, Unterstützung aus dem Fonds im Nachhinein zu leisten, wenn es Beweise dafür gibt, dass Aktionen stattgefunden haben.

Die Überweisungen finden zwischen BTC-Kryptowährungen statt. Dazu schicken wir den Empfänger*innen Anweisungen, wie sie die Kryptowährung anonymisieren können, wenn sie dafür Fiatgeld kaufen.

Wir möchten allen zukünftigen Teilnehmer*innen am Partisanenwiderstand eine wichtige Empfehlung mitgeben: Führt Vorabtests aller Kampfmittel durch, die ihr bei euren Aktionen einsetzen wollt. Ganz gleich, ob Molotow-Cocktails oder fortschrittlichere Mittel verwendet werden, dieses Vorgehen wird es euch ermöglichen, unglückliche Fehler und Probleme im Moment der direkten Aktion zu vermeiden.

Wenn ihr auf die Geschichte Russlands und der umliegenden Regionen zurückblickt, welche Organisationen und Kämpfe betrachten ihr dann als eure Vorläufer?

Wir sehen uns in der revolutionären anarchistischen Tradition Osteuropas. Wir sehen die militanten anarchistischen Gruppen vom Anfang des letzten Jahrhunderts als unsere Vorläufer: Chernoe Znamia [“Schwarzes Banner”, ein 1903 in Białystok gegründeter Zusammenschluss von Kadern], “Beznachaliye” [“Ohne Autorität”, der wichtigste anarchistische Kreis in Petersburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts] und die “Südrussische Anarchistisch-Syndikalistische Gruppe”. Was uns an diesen Organisationen inspiriert, ist ihr Engagement für eine entschlossene kämpferische Tätigkeit und ihr Wunsch, die breiten Massen des Volkes in die Kampfarbeit einzubeziehen, um den politischen und wirtschaftlichen Kampf zu einem einzigen Kampf für die soziale Revolution zu vereinen. Wir sehen uns auch als Nachfolger der Revolutionären Aufständischen Armee der Ukraine (RPAU) [die Kräfte um Nestor Makhno, auch bekannt als Schwarze Armee] und der Anarchist*innen des Untergrunds, die sich während des Bürgerkriegs der reaktionären und bolschewistischen Diktatur mit der Waffe in der Hand entgegenstellten.

Was die jüngere Zeit betrifft, so bringt unser Anarchismus der Partisan*innen einen kreativen Ansatz zu den Ideen und Praktiken der Neuen Revolutionären Alternative aus den 1990er Jahren [einer russischen aufständischen anarchistischen Gruppe, die während des Tschetschenienkriegs eine Reihe von Anschlägen auf Regierungsziele durchführte] und den Gruppen, die sich Ende der 2000er und Anfang der 2010er Jahre um den “Schwarzen Blog” herum organisierten. Darüber hinaus inspiriert uns die heldenhafte Selbstaufopferung von Michail Schlobitzki, der am 31. Oktober 2018 das FSB-Hauptquartier in Archangelsk bombardierte, und wir bewundern seine Tat.

Wenn wir auf die Erfahrungen und das Beispiel unserer Vorgänger*innen zurückblicken, kommen wir zu dem Schluss, dass erfolgreiche revolutionäre Arbeit eine disziplinierte Organisation erfordert, die aus entschlossenen, selbstlosen und engagierten Gefährt*innen besteht.

“Wenn die anarchistische Bewegung wieder auflebt, wird sie regelmäßig vor taktischen und strategischen Aufgaben stehen, die nur mit bewaffneten Mitteln gelöst werden können. Darauf muss man vorbereitet sein.” –Ein Artikel von Anarchist Combatant über die Geschichte des russischen Anarchosyndikalismus.

Im Laufe der Jahre eurer Tätigkeit habt ihr erlebt, wie die Regierung Putin immer repressiver wurde. Wenn die Regierung die Repression verschärft, steht die anarchistische Bewegung vor einem Dilemma: Sollen wir mehr in die Öffentlichkeit gehen und mehr Risiken eingehen, um zu versuchen, einen Rückschlag in der Gesellschaft zu verhindern? Oder sollen wir in den Untergrund gehen, um uns auf Repressionen vorzubereiten? Ist es möglich, beides zu tun? Wie können wir ein Gleichgewicht zwischen dem Bedürfnis nach gemeinschaftlicher Organisation und der Notwendigkeit, unsere Projekte zu schützen, finden?

Uns sind Beispiele bekannt, in denen es einigen Gefährt*innen gelungen ist, lange Zeit zwischen Öffentlichkeit und Untergrund zu balancieren und in beiden Bereichen recht aktiv zu sein. Dies ist jedoch die Ausnahme von der Regel. Eine gewisse Aufteilung in “überirdische” und “unterirdische” Flügel ist unvermeidlich. Die Erfahrung vieler revolutionärer Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts beweist dies.

Es ist wichtig, dass es beide Flügel gibt und dass sie stark sind. Gleichzeitig bestehen wir darauf, dass es Verbindungen zwischen ihnen geben muss, einschließlich der Möglichkeit für Militante, von einem Flügel zum anderen zu wechseln. In der Vergangenheit haben wir manchmal die Meinung gehört, dass aus “Sicherheitsgründen” der öffentliche und der Untergrundflügel völlig voneinander isoliert sein sollten. Unserer Erfahrung nach gibt es immer irgendwelche Übergangsverbindungen und Kommunikationskanäle.

Welchen Rat könnt ihr Anarchist*innen in anderen Teilen der Welt geben, die derzeit nicht in Untergrundstrukturen organisiert sind, diese aber möglicherweise organisieren müssen? Welche Schritte sollten sie jetzt unternehmen, die in Zukunft schwieriger sein könnten?

Es ist sehr schwierig, diese Frage zu beantworten, ohne mit den spezifischen Gegebenheiten in den Teilen der Welt, über die wir sprechen, vertraut zu sein. Daher können wir nur die allgemeinsten Punkte hervorheben.

Zunächst einmal müssen die Gefährt*innen innerhalb der anarchistischen Bewegung selbst für die Schaffung bewaffneter Strukturen im Untergrund agitieren – soweit wir wissen, haben die Anarchist*innen in den meisten Ländern überhaupt kein Verständnis für die Notwendigkeit einer solchen Struktur.

Dann müssen die primären Organisationen solcher Strukturen geschaffen werden, und darüber hinaus ein Netzwerk von zuverlässigen Kontakten in verschiedenen Regionen des Landes – natürlich unter Berücksichtigung aller notwendigen Sicherheitsmaßnahmen.

Gleichzeitig müssen die Gefährt*innen Schulungen und Übungen in verschiedenen militärischen Bereichen organisieren.

Es ist nie zu früh, um mit dem Sparen von Geld, Waffen und Ausrüstung zu beginnen. Und wir müssen einen vollständig sicheren Rahmen für öffentliche und nichtöffentliche Informationen und Medienaktivitäten sowie für bargeldlose Geldtransfers schaffen. Dies scheinen die Grundlagen zu sein.

Ein russisches Einberufungsbüro brennt im Frühjahr 2022.

Wenn wir auf die letzten fünfzehn Jahre in Russland zurückblicken, hätte irgendeine Art von internationaler Solidarität und Unterstützung die Anarchist*innen in Russland in die Lage versetzen können, Putin daran zu hindern, genügend Kontrolle über die russische Gesellschaft zu erlangen, um in die Ukraine einmarschieren zu können?

Vielleicht ist es sinnvoll, auf einen noch früheren Zeitraum zurückzublicken – auf die Jahre 1993 und 1996, als Jelzin und die Oligarchen ihre Macht konsolidierten und ihre politischen Rival*innen zerschlugen. So unsympathisch diese auch gewesen sein mögen, so scheint es doch, dass der Weg zum Aufbau eines autoritären Staates, der jede politische Alternative unterdrücken konnte, zu diesem Zeitpunkt bereits vorgezeichnet war. Putin folgte nur dieser Logik, und er hatte bereits weniger Hindernisse zu überwinden als Jelzin. Dann kamen die unpolitischen (oder “gesättigten”, wie man sie nennt) 2000er Jahre, in denen es kaum eine Möglichkeit gab, das Boot zu schaukeln. Theoretisch hätte die politische Krise von 2011-2012 vielleicht Putins Herrschaft beenden können, wenn alle Oppositionskräfte kohärenter und radikaler vorgegangen wären. Die Anarchist*innen versuchten, den Protest zu radikalisieren, aber unsere Kräfte reichten nicht aus, und die Behörden beschlossen, die ersten schweren Repressionswellen zu starten.

Es ist für uns schwer zu sagen, welche Art von internationaler Unterstützung unsere Bewegung damals hätte stärker machen können. Die Einnahme der Krim und der Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine im Jahr 2014 führten zu einem starken Anstieg der reaktionären Stimmung in Russland, und das Land steuerte geradewegs auf die aktuelle Katastrophe zu.

In den USA glauben einige “Antiimperialist*innen” (darunter eine kleine Anzahl angeblicher Anarchist*innen), dass jeder, der ukrainische Anarchist*innen unterstützt, die sich am militärischen Widerstand gegen die Invasion beteiligen, “Seite an Seite” mit ukrainischen Faschist*innen kämpft, die Zelenski-Regierung unterstützt und die Interessen der NATO fördert. Bitte erläutert eure eigene Position dazu, wie russische und ukrainische Anarchist*innen eurer Meinung nach in dieser Situation handeln sollten und was Anarchist*innen in anderen Teilen der Welt in Solidarität tun sollten.

Die Niederlage der Ukraine wird den Triumph der reaktionärsten Kräfte in Russland herbeiführen und das Land endgültig in ein neostalinistisches Konzentrationslager verwandeln, in dem die uneingeschränkte Macht im FSB [Föderaler Sicherheitsdienst, Nachfolger des KGB] und eine totalitäre orthodoxe imperiale Ideologie konzentriert sind. In der besetzten Ukraine wird jeder Keim der Zivilgesellschaft und der politischen Freiheit zerstört, und die Existenz der ukrainischen Kultur wird in Frage gestellt. Andererseits wird es im Falle einer Niederlage Russlands unweigerlich zu einer Krise der Macht Putins und zur Aussicht auf eine Revolution kommen. Für Anarchist*innen scheint die Wahl zwischen diesen Alternativen klar zu sein.

Auf jeden Fall sehen wir hier in Osteuropa all dies als viel dringlicher und realer an als die Argumente (die man haben kann, ohne sich zu irgendetwas zu verpflichten) über die geopolitischen Spiele der Vereinigten Staaten und der NATO, die wir lieber den Propagandisten Putins überlassen. Solidarität mit uns bedeutet also Solidarität mit der Ukraine, mit ihrem Sieg.

Ihr hattet über ein halbes Jahr Zeit, die verschiedenen anarchistischen Strategien in Russland, Weißrussland und der Ukraine als Reaktion auf die Invasion zu bewerten. Was habt ihr erwartet und was hat euch überrascht? Was denken ihr zum Beispiel über das Ergebnis der öffentlichen Antikriegsproteste im Februar und März 2022? Können ihr etwas zur Wirksamkeit der Operation Solidarity, des Widerstandskomitees, des Feministischen Antikriegs-Widerstands, der Autonomen Aktion oder anderer Organisationen auf beiden Seiten der Grenze sagen, die versuchten, auf die Invasion zu reagieren?

Um ehrlich zu sein, ist es in sechs Monaten immer noch unklar, welche Kombination von Strategien am effektivsten ist. Alle Aktionen der Gefährt*innen waren von großer Bedeutung, und dennoch können wir noch nicht sagen, dass die anarchistische Bewegung in Russland/Belarus oder der Ukraine auf dem Vormarsch ist, obwohl wir in der Ukraine eine inspirierende Mobilisierung sehen.

Wir unterstützen die Entscheidung der Anarchist*innen in der Ukraine, zu den Waffen zu greifen und sich an der militärischen Konfrontation mit dem Imperialismus zu beteiligen. Jede revolutionäre politische Bewegung muss kämpferisch sein, muss ihre Kampffähigkeit in Zeiten des Krieges unter Beweis stellen und sich mit der gesamten Gesellschaft an ihrem Kampf beteiligen. Wir sind angenehm überrascht über den logistischen Erfolg, die Sammlung von materieller Hilfe und notwendigen Gegenständen und die Medienresonanz, die der “zivile Flügel” der libertären Bewegung in der Ukraine erreicht hat.

Wir würden uns jedoch mehr Organisation und Struktur unter den Anarchist*innen auf ukrainischer Seite wünschen, sowie eine klarere und aktivere politische Position. Das Manifest des Resistance Committee allein ist dafür nicht ausreichend.

Was Russland betrifft, so sind wir der Meinung, dass alle Aktionen – friedliche, gewaltsame, symbolische und informelle – sehr wichtig sind. Alles, was die Köpfe und Seelen der Menschen in unserer Gesellschaft berühren kann. Gleichzeitig befürworten wir die Methoden der Partisan*innen: Sabotage, direkte Aktionen, der Partisan*innen Krieg gegen das faschistische Regime. Wir sind der Meinung, dass diese unter den gegenwärtigen Bedingungen die größte Resonanz und das größte politische und revolutionäre Potenzial haben.

Glauben ihr, dass Menschen außerhalb Russlands etwas hätten tun können, damit die erste Phase der russischen Antikriegsbewegung anders verlaufen wäre?

Obwohl nur wenige an eine umfassende Invasion glaubten, entstand bereits in den ersten Stunden des Krieges eine große internationale Solidaritätsbewegung. Antiautoritäre, die sich dem bewaffneten Widerstand gegen den Putinismus in der Ukraine anschlossen, wurden schnell mit dem Nötigsten versorgt und ausgestattet. Auch Freiwillige, darunter Leute aus anarchistischen Initiativen, halfen ukrainischen Geflüchteten. Es fanden Solidaritätsaktionen, Treffen und Diskussionen statt. Es wurde viel Arbeit geleistet, und hier können wir den Gefährt*innen nur danken.

Aber es gibt fast immer mehr, was wir im Bereich der Solidaritätsaktionen oder des Fundraisings für die libertären Bewegungen in der Ukraine und in Russland tun können. Wir hören oft, dass die Menschen im Westen allmählich “des Themas Krieg überdrüssig” werden, und wir sehen nicht mehr den gleichen Konsens in der Frage der internationalen Isolierung des Putin-Regimes, den es früher gab. Jetzt kommt es darauf an, einen “Ton der Solidarität” beizubehalten, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Aktivität aufrechtzuerhalten.

Seit Bakunin 1840 Russland verließ, und möglicherweise auch schon davor, musste eine Generation russischer Radikaler nach der anderen aus Russland fliehen und sich außerhalb des Landes organisieren. Können ihr etwas zu den Problemen der Organisation von Bewegungen sagen, die politische Emigrant*innen im Exil einschließen? Wie haltet ihr zum Beispiel die Verbindungen zwischen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands aufrecht? Wie haltet ihr das Gleichgewicht zwischen dem Einfluss der russischen Gefährt*innen, die die Bewegung als Emigrant*innen in Westeuropa “repräsentieren”, und den Perspektiven derjenigen, die sich noch im Land befinden und dadurch einem größeren Risiko ausgesetzt sind?

Soweit wir sehen können, besteht eines der wichtigsten Probleme bei der Emigration darin, politisch aktiv zu bleiben, eine radikale Perspektive beizubehalten und ein Gleichgewicht zwischen der Integration in eine neue Gemeinschaft und der Verbindung mit den Realitäten und der Bewegung in der Heimat zu finden.

Die derzeitige Gemeinschaft der Exilant*innen aus Russland ist, soweit wir sehen können, ziemlich verstreut. Allerdings gibt es mehrere Gruppen russischer Anarchist*innen im Ausland. Das ist eine sehr positive Sache, die es zu entwickeln gilt.

Unserer Meinung nach kann man nur dann von “Repräsentation” sprechen, wenn es sich um eine Organisation handelt, die sowohl in Russland als auch im Ausland Zweigstellen hat. Andernfalls sprechen wir nicht von Repräsentation, sondern nur von den Meinungen und Perspektiven bestimmter Gruppen und Einzelpersonen.

Was die Verbindungen zwischen Emigrant*innen und denjenigen, die innerhalb Russlands aktiv sind, betrifft, so gibt es diese durchaus. Das Internet und die Möglichkeiten der anonymen Kommunikation tragen wesentlich zu ihrer Existenz bei. Auch hier wäre es angebracht zu sagen, dass wir mehr Organisation brauchen, damit diese Verbindungen systematisch und politisch bedeutsam werden, und nicht nur sporadische individuelle Kommunikation. Es gibt Schritte in die richtige Richtung, aber wir können die Details nicht verraten.

Bei genauem Hinsehen kann die Betrachter*in erkennen, dass jemand die Buchstaben “BOAK” für “Anarcho-Kommunistische Kampforganisation” in die Seite der sabotierten Schiene geritzt hat.

Die Spaltung von Operation Solidarity hat Fragen zur Konfliktlösung und zur Frage aufgeworfen, wie die Menschen in der Bewegung unter starkem Druck miteinander kooperieren können. Wie manifestieren sich die Werte und Ideologien der herrschenden Verhältnisse – wie Kapitalismus, Patriarchat und liberaler Individualismus – in den Aktivitäten und dem Verhalten von Revolutionär*innen in den ehemaligen Sowjetrepubliken?

Es ist schwierig für uns, die Spaltung zu beurteilen, die wir nicht miterlebt haben. Wir können jedoch eine gemeinsame Vision der “Kultur der Spaltungen” teilen, die nicht nur in der anarchistischen Bewegung, sondern in der heutigen Gesellschaft im Allgemeinen blüht.

Manchmal hören wir von Gefährt*innen: “Spaltungen sind gut; wenn Leute untereinander Widersprüche haben, sollten sie sich trennen.” Mit dieser Art von Logik kann man keine starke Bewegung aufbauen. Aus Erfahrung können wir sagen, dass hinter “ideologischen Spaltungen” immer nicht nur theoretische und praktische Differenzen stehen, sondern auch Ambitionskonflikte, Macht- und Ressourcenkampf und Egoismus. Das ist nicht nur typisch für Neulinge, die gerade erst der Bewegung beigetreten sind, sondern auch für alte und erfahrene Revolutionär*innen, die seit vielen Jahren dabei sind.

Wir kennen keine todsichere Formel, um solche Spaltungen zu verhindern. Leider hat jede Bewegung, die wir kennen, dramatische Konflikte durchgemacht, darunter auch einige, die ziemlich massiv und erfolgreich waren. Wenn es etwas gibt, das wahrscheinlich vor Spaltungen schützt, dann ist es die kollektive Selbstdisziplin – die Einsicht, dass die Interessen des Kampfes über den individuellen Wünschen und Vorlieben stehen, dass kollektive Entscheidungen nicht immer das sind, was jede/r Einzelne gerne hätte, dass sie aber dennoch wichtig sind, um die Gruppe zusammenzuhalten.

Das mag naiv klingen, aber ein liebervoller Umgang unter Gefährt*innen [comradely love] und herzliche Beziehungen im Kollektiv können auch vor Spaltungen schützen. Aber wir wissen genau, dass sie keine Garantie sind, dass sie Konflikte nicht völlig ausschließen können. Aber auch wenn sich Spaltungen nicht ganz vermeiden lassen, sollten wir uns bemühen, sie zu minimieren.

Außerhalb Russlands hat man den Eindruck, dass Putin Rekrut*innen aus kleinen Städten anwirbt, um die Auswirkungen des Krieges in Moskau und St. Petersburg zu minimieren. Was kann man tun, um eine politische Strategie zu stören, die darauf abzielt, die Auswirkungen des Krieges einzudämmen? Wie können Anarchist*innen angesichts der starken Repression denjenigen etwas vermitteln, die Grund haben, über den Krieg empört zu sein?

Dieser Eindruck ist unserer Ansicht nach sehr richtig. Und hier wirkt der Krieg selbst, durch seine fatale Unvermeidlichkeit, als Hauptfaktor für den Sturz des Regimes. Diese Rolle kann nicht rückgängig gemacht werden, weder von der russischen Regierung, selbst wenn sie es wollte, noch von den Gegner*innen des Regimes – kein anderer Faktor wird diesen Krieg überschatten können.

Was die Frage betrifft, wie wir unsere Botschaft unter diesen Bedingungen der Unterdrückung unter die Leute bringen können, so versuchen wir, unsere Vision in die Tat umzusetzen. Den Befürworter*innn von Putins Politik und denjenigen, die ihr gleichgültig gegenüberstehen, muss gezeigt werden, dass der Krieg ganz in ihrer Nähe sein kann. Den Gegner*innn des Krieges müssen wirksame Wege aufgezeigt werden, ihn zu bekämpfen.

Glaubt ihr, dass die Invasion in der Ukraine ein Zeichen für die Zukunft ist – eine Zukunft, in der sich Kriege ausbreiten, während der Kapitalismus in eine Reihe von Wirtschafts- und Umweltkrisen gerät? Was sollten die Menschen jetzt tun, um sich vorzubereiten?

Dies ist ein sehr wahrscheinliches Szenario. Natürlich ist die allgemeingültige Antwort, die wir geben können, dass wir so schnell wie möglich eine anarchistische Revolution machen sollten :))

Der “realistischere” Ratschlag sollte sich immer noch auf die Stärkung der demokratischen Kontrolle der breiten Masse über die Behörden beziehen – je effektiver eine solche Kontrolle ist, desto mehr Probleme können in Zukunft vermieden werden. Aber dies ist immer noch ein relativ optimistisches Szenario – es ist wahrscheinlich, dass die Gesellschaft nicht stark genug sein wird und die Eliten die Leute in die Katastrophe führen werden. Was hier zu tun bleibt, ist wohl der Versuch, möglichst umfassende horizontale Verbindungen auch unter den ideologisch motivierten Teilen der anarchistischen Bewegung zu entwickeln, damit diese Verbindungen nicht nur auf den Aktivismus beschränkt sind, sondern auch im wirtschaftlichen Bereich funktionieren. Solche auf Vertrauen basierenden Gruppen können sehr helfen, schwierige Zeiten zu überstehen, und Menschen von außen, aus dem atomisierten sozialen Chaos, können sich um sie scharen.

Erklärt bitte abschließend, wie Menschen außerhalb der Region eurer Meinung nach Anarchist*innen in Russland, Weißrussland und der Ukraine am besten unterstützen können.

Beteiligt euch an Initiativen, die die Revolutionär*innen in Osteuropa materiell und im Bereich der Information unterstützen. Wir wollen euch insbesondere dazu ermutigen, an unseren Revolutionären Anarchistischen Fonds zu spenden – das hilft enorm, wenn es darum geht, den Kampf zu führen und seine Kosten zu decken.

Es ist wichtig, dass die anarchistische revolutionäre Strategie nicht auf ein Land oder eine Region beschränkt ist. Der Staat und der Kapitalismus müssen auf der ganzen Welt angegriffen werden.

Ihr könnt der Anarcho-kommunistischen Kampforganisation auf Telegram unter BOAK und Anarchist Combatant folgen.

Weiterlesen

  • Ein früheres Interview mit der Anarcho-kommunistischen Kampforganisation, verfügbar auf Französisch und Russisch
  • Ein Interview mit freundlicher Genehmigung der Final Straw Radio Show